Räumliche Vorstellungen sind in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften überall zu finden. Sie gehen in die Konstruktion von deren Gegenständen ein: »Europäische Geschichte«, »Kulturraum«, »Unterschicht«, »sozialer Aufstieg« u.v.a.m. Abstrakte, metaphorische und konkrete Raumvorstellungen purzeln durcheinander, und dies bedingt manches Missverständnis. Alexander Mejstrik unterscheidet im ersten Beitrag drei Strategien, Ordnung in die räumlichen Vorstellungen zu bringen. Ein enzyklopädisches Vorgehen schaffe zwar eine erste Orientierung, doch gebe es zu viele Raumvorstellungen; selbst die beste Liste sei lückenhaft. Ein typisierender Zugang versuche die Vielfalt an Raumvorstellungen zu ordnen, doch viele Raumvorstellungen könnten nur mit Mühe einem einzigen Typus zugeordnet werden. Eine rein theoretische (vorempirische) Definition von Raum würde die Probleme der empirischen Forschung oft verfehlen. Stattdessen schlägt Mejstrik ein »epistemologisches Profil« vor, das es erlauben soll, die Konstruktion eines Forschungsgegenstandes im Hinblick auf implizite und explizite Raumvorstellungen fortlaufend zu berichtigen. Der Autor folgt darin einem Vorschlag von Gaston Bachelard (Die Philosophie des Nein).
Wie relevant die fortlaufende Berichtigung von Raumvorstellungen wäre, zeigt auch Christoph Kühberger in seinem Beitrag über die Konstruktion »Europas« durch die Europäische Kommission und – exemplarisch – an österreichischen Gymnasien. Ist die Westgrenze Europas naturgegeben, kann seine geographische Ostgrenze nur als ein Konstrukt gelten, über das kein Konsens besteht. Sucht ein bestimmter sozialgeschichtlicher Blick sozialkulturelle Einheit und christliche Tradition, findet er sie nur um den Preis, den »europäischen Kulturraum« mit dem geographischen Westeuropa gleichzusetzen. Hybridtheorien, Kulturtransfer, Austausch- und andere Modelle für kulturelle Kontakte bleiben dann unbeachtet. Ein bestimmter politischer und ökonomischer Blick hingegen will Europa als Markt möglichst weit fassen und betont zu diesem Zweck die sozialkulturelle und religiöse Vielfalt, die transnationale Durchdringung des Alltags durch Migration, bi-kulturelle Ehen, Tourismus u.a. Je nachdem werden dann auch Geschichte und Geschichtsunterricht unterschiedlich beauftragt und entworfen. Sowohl den Nationalstaaten als auch der Europäischen Union gelten sie nach wie vor als wichtige Agenturen der Ideologiebildung und Identitätsstiftung. Die empirische Untersuchung der an Österreichs Gymnasien am häufigsten eingesetzten Geschichtsbücher aber zeigt, dass hier immer noch ältere, nationalstaatliche Konzepte überwiegen. Weder für eine quasi-nationale (west-) europäische Identität noch für ein plurales größeres Europa finden sich im gymnasialen Geschichtsunterricht ausgereifte Konzepte.
Das 2005 begangene Fünfzig-Jahre-Jubiläum der Zweiten Republik Österreich bot Gelegenheit, die jüngere Geschichte des Landes in historischen Ausstellungen neu zu bewerten. Ulrike Felber analysiert die Ausstellungen im Oberen Belvedere in Wien und auf der niederösterreichischen Schallaburg und bespricht auch eine kleinere Schau des Technischen Museums Wien. Historische Ausstellungen bauen Räume des Gedenkens, und sie werden, wie Felbers Analyse zeigt, von den dominanten Raumvorstellungen der Geschichtswissenschaft orientiert. Die Räume des Gedenkens sind ebenso virtuell wie die Räume der Geschichte. Sie werden mit symbolischen Mitteln konstruiert und weniger stringent durchdacht als mit Emotionen und Leidenschaften besetzt. In Felbers Kritik der Ausstellung auf der Schallaburg heißt es: Ein unterirdisch angelegter, dunkel gehaltener, so genannter »Emotionsraum weckte Erinnerungen an Angst und Schrecken des Krieges, die Sicht auf die Ursachen des Geschehens aber verdeckte er.« Ein gebauter Raum sollte also einen historischen Zeit-Raum »nacherlebbar« machen. Das Gedenken an ein beispielloses Verbrechen reduzierte die Ausstellung auf ein Totengedenken. Nicht nur hier mutieren Räume des Gedenkens leicht ins Quasi-Religiöse. In Entsprechung eines gedachten Prozesses der Geschichte wird ein Raum des historischen Gedenkens inszeniert: Dem erdachten historischen Fortschritt entspricht der vorgegebene Gang durch die Ausstellungsräume. So schreibt Felber über die Raumarchitektur auf der Schallaburg: »Diese Anordnung begünstigte die teleologische Ausrichtung auf den Endpunkt der Ausstellung, den Staatsvertrag.« Wie sie Geschichte als einen auf ihren gegenwärtigen Standpunkt hinlaufenden Prozess denken, so bauen Historiker die Räume des Gedenkens derart, dass der Besucher am Ende eines »Parcours« das Ziel der gedachten Entwicklung erreicht. Die zielorientierte Bewegung schwenkt, an ihr Ende gekommen, in feierliche »Stimmung« um: Auf der Schallaburg nahmen die Besucher am nationalen Hochamt teil, mit den letzten Flaschen des »Staatsvertrags-Weines« und den Stummeln der »vor dem Belvedere am 15. Mai 1955 angezündeten Kerzen«. So wurde Ergriffenheit vor dem »Wunder Staatsvertrag« regelrecht herbeiinszeniert. Im Oberen Belvedere schwang sich das durch die gesamte Ausstellung führende rot-weiß-rote Band am Ende ins Weltall. Von dort konnten sich die BesucherInnen ins Belvedere zurück-»zoomen«. Schließlich wollte man doch wieder zu Hause landen. Dass sich auch diese Ausstellung einer Chronologie des sozialökonomischen, künstlerisch verschönten oder auch ironisierten »Aufstiegs« verpflichtete, war sinnlich erfahrbar in der Wanderung der BesucherInnen durch die Räume.
1918 verlor Deutschland seine Kolonien. »Damit endete die reale Kolonialgeschichte Deutschlands – nicht jedoch die Projektions- und Phantasiegeschichte.« Karsten Linne erzählt über die vielfältigen Anstrengungen deutscher Wissenschaften, sich in den Dienst der Eroberung und Verwaltung »auswärtiger« Räume zu stellen: Kolonialwissenschaftler träumten von der Ausgestaltung eines deutschen Kolonialreichs im mittleren Afrika, beteiligten sich aber auch am »Madagaskar-Plan« zur Aussiedlung der europäischen Juden. Viele von ihnen waren überzeugte Nazis, andere standen dem Wilhelminismus immer noch näher. Besonders die Universität Hamburg setzte seit ihrer Gründung auf die Kolonialwissenschaften. Den politischen und wirtschaftlichen Zielen zu nützen versprach zusätzliche Forschungsaufträge, Dienstposten und andere Ressourcen. Viele Kolonialforscher waren bereits in einer kolonialwissenschaftlichen Tradition aufgewachsen und eilten den kolonialen Zielen des NS-Staates aus Überzeugung entgegen. Neben der Völkerkunde waren Afrikanistik, Land- und Forstwirtschaft, Kolonialmedizin, Wirtschaftsforschung und Kolonialrecht sowie Kolonialgeographie die führenden Disziplinen. Geschichts- und Politikwissenschaft beziehungsweise Auslandskunde besorgten – gleichsam als Überbau – die Legitimation deutscher Herren in den erträumten Kolonien.
Ein Raum der Geschichte wird nicht nur durch seine konstruierten oder natürlichen Grenzen, sondern auch darüber vorstellbar, wer in ihm wohnt. Indem seine BewohnerInnen in ihm leben und arbeiten und ihre Bedeutungen symbolisieren, markieren sie ihn als ›Kulturraum‹ mit ethnisch-sprachlich, religiös, politisch oder ökonomisch legitimierten inneren und äußeren Grenzen. Daher ist es seit den Anfängen des modernen Flächenstaates ein hoch politisches Thema, die Bewohner des Raumes nicht nur nach Köpfen zu zählen, sondern ihnen auch ein bestimmtes Bewusstsein ihrer Zugehörigkeit, ihrer Gemeinsamkeiten respektive ihrer Verschiedenheiten – soziale Identität – zuzuschreiben. »Rassische« und »ethnische« Kategorien behaupten an »Blut« und Abstammung gebundene Neigungen und Fähigkeiten als angeborene Charaktereigenschaften. Peter Melichar untersucht, nach welchen Kriterien »Juden« in Österreich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen diagnostiziert und gezählt wurden. Anders als im Dritten Reich sei die Identifizierung eines Menschen als »Jude« beziehungsweise »Jüdin« gewissermaßen Privatsache gewesen. Die so genannte Judenriecherei habe auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft und häufig durch »Gerüchte«, »Gerede« und »Denunziationen« stattgefunden. Die private Diagnose gab sich mit dem amtlichen Zählungskriterium der Religionszugehörigkeit nicht zufrieden. Man ›roch‹ weitaus mehr Juden, als sich in Volkszählungen wie im Alltag zur jüdischen Religion bekennen wollten. Und man habe jene, die ihre soziale Identität nicht (mehr) von der Religion ihrer Eltern und ihrer Abstammung herleiteten, für die gefährlicheren Gegner gehalten. Besonders ihnen habe auch der Antisemitismus der Christlich-Sozialen gegolten. Damit aberwar freilich auch die komplementäre »Deutschblütigkeit« eine fragwürdige Kategorie. So sei die Willkür nicht zu übersehen, wenn Personen als Juden beziehungsweise als Nichtjuden bezeichnet wurden. Der Österreichische Verwaltungsgerichtshof sah sich daher zu einer autoritativen Interpretation berufen. Im Zusammenhang mit der Option für Österreich nach 1918 definierte er »Rasse« als »Abstammungsgemeinschaft«. Damit zielte er »fast ausschließlich« auf Juden, denen die Staatsbürgerschaft verweigert wurde.
Am Ende dieses Bandes der ÖZG findet sich eine Rede der Züricher Historikerin Brigitte Studer, die sie im November 2005 auf einer Festveranstaltung anlässlich des 15. Geburtstags der vorliegenden Zeitschrift im kleinen Festsaal der Universität Wien gehalten hat. Studers luzider Vergleich von fünfzehn Jahrgängen der ÖZG zeigt, dass sich die Problemstellungen und Forschungsfragen merklich verändert haben. Herrschte im Gründungsjahr der Zeitschrift, 1990, noch ein gewisser Optimismus, Geschichte »neu zu schreiben« und damit die Wende in Europa kritisch und analytisch zu begleiten, ist die Diagnose heute, fünfzehn Jahre später, ambivalent: An den Texten der Zeitschrift zeige sich die weitere Entgrenzung der Disziplin, die Öffnung hin zu anderen Sozial- und Kulturwissenschaften und eine beträchtliche Pluralisierung der Forschungsgegenstände. Damit habe sich die Sache der Historiker »ungemein kompliziert«, sie sei nun nicht weniger kompliziert als die anderer Sozial- und Kulturwissenschaften. Zum anderen habe die Zeitschrift eben deshalb den sprachlichen Gestus einer weithin verständlichen Erzählung von Geschichte aufgegeben. Metatexte über die Möglichkeiten und Grenzen geschichtswissenschaftlichen Forschens und Argumentierens nähmen zeitweise überhand. Umso mehr aber sei es erforderlich, nach neuen Wegen der Vermittlung zu suchen: »Es wäre zwingend notwendig, dass sich die Geschichtswissenschaft – auch die ÖZG – intensiver mit der Frage auseinandersetzt, wie sich die Forschung inhaltlich, methodisch und konzeptuell ausdifferenzieren kann, ohne den Kontakt mit einer historisch interessierten Öffentlichkeit zu verlieren.« – Voilà, wir danken herzlich für dieses Geburtstagsgeschenk, auch für die Treue unserer Leserinnen und Leser und machen uns – um begrifflich zum Thema des Bandes zurückzukehren – wieder auf den Weg.
Reinhard Sieder (Wien)
Alexander Mejstrik
Welchen Raum braucht Geschichte? Vorstellungen von Räumlichkeit in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften
Ulrike Felber
Jubiläumsbilder. Drei Ausstellungen zum Staatsvertragsgedenken 2005
Karsten Linne
»Arbeit für unsere koloniale Zukunft« – die nationalsozialistischen Kolonialwissenschaften
Peter Melichar
Definieren, Identifizieren, Zählen. Antisemitische Praktiken in Österreich vor 1938
Christoph Kühberger
»Invented Europe«. Zur Instrumentalisierung der europäischen Geschichte im Geschichtsunterricht