Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 4. Jg., Heft 4, 1993

Banken und Kapital

Die Aufsätze in diesem Heft behandeln Aspekte des Tätigkeitsfeldes der Banken in der krisenreichen Geschichte der kapitalistischen Marktwirtschaft im Donauraum. Obwohl ihre besondere Aufmerksamkeit der Zwischenkriegszeit gilt, betrachten die Autorinnen und Autoren die Beziehungen zwischen Banken und Industrie im Kontext der wirtschaftspolitischen Entwicklung vom Anfang bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Bislang stellte die Historiographie zur Rolle der Banken in der Industrialisierung im 19. Jahrhundert die Frage, ob deren unternehmerische Tätigkeit wachstumshemmend oder -fördernd gewesen sei. Diese Fragestellung wird hier erweitert: Untersucht wird die in Mitteleuropa besonders enge Verknüpfung von Privat- und Kommerzbanken, Sparkassen und Industrieunternehmen, die ihren Anfang in der Habsburgermonarchie nahm, den Zerfall Österreich-Ungarns überdauerte und einen integralen Bestandteil der Wirtschaftseinheiten der Nachfolgestaaten bildete.

Die Beiträge befassen sich mit den drei Nachfolgestaaten Tschechoslowakei, Ungarn und Österreich, deren Industrie- und Bankensystem sich im Rahmen der Habsburgermonarchie entwickelt hatte. Nach 1918 erbten die neuen Staaten ein relativ vergleichbares Wirtschaftsniveau und eine ähnliche Wirtschaftsorganisation, was manche Wirtschaftshistoriker zu stark verallgemeinernden Aussagen verleitete. Die Anwendung quantitativer und komparativer Forschungsmethoden in den hier vorgestellten Studien läßt sowohl bemerkenswerte Ähnlichkeiten wie auch deutliche Unterschiede erkennen. Die Verbreitung des credit mobiliér-Systems in Europa festigte das symbiotische Verhältnis zwischen Banken und Industrieunternehmen und führte zum Aufbau kontinuierlicher Verbindungen durch wechselseitigen Aktienbesitz, zu wiederholten Konvertierungen kurzfristiger in langfristige Kredite, zur zunehmenden Konzernierung und andauernden persönlichen Beziehungen zwischen Bankiers und Industriellen, die eine Verschachtelung der Verwaltungs- und Aufsichtsratsstellen bewirkten. Andererseits wurden durch diese empirischen Forschungen markante Differenzen in den untersuchten Ökonomien sichtbar: die nationale Frage als ein Instrument tschechischer und slowakischer Konkurrenz mit den Wiener und Budapester Großbanken, die finanzielle Trennung von Wien und Budapest durch die Nostrifizierung von Banken und Industrie- und Handelsgesellschaften, und nicht zuletzt die Unterschiede in der Unternehmensstrategie tschechischer, slowakischer, ungarischer und österreichischer Bankenkonzerne.

Die Aufsätze von Josef Faltus, György Kövér und Vlastislav Lacina stützen sich auf Referate, die auf der internationalen Konferenz Banks and customers: dient relations in interwar Central Europe and Scandinavia im September 1991 in London vorgetragen wurden. Alice Teichovás Aufsatz ist eine überarbeitete Fassung eines Beitrages zur Konferenz über Economic transformation in Central and Eastern Europe: lessons and legacies from the past, die im Austria Center der University of Minnesota im April 1992 in Minneapolis stattfand. David Good danke ich für seine Zustimmung zur Veröffentlichung dieses Aufsatzes in der ÖZG. Ebenso bedanke ich mich für die Erlaubnis der Cambridge University Press, die Studie von Hans Kernbauer und Fritz Weber über Multinational banking in the Danube basin erstmals in deutscher Sprache zu veröffentlichen.(1)

Abschließend möchte ich dem Economic and Social Research Council in Großbritannien und dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Österreich für die finanzielle Förderung der Forschungsprojekte Dank aussprechen. Dieses Heft der ÖZG enthält einen Teil der Resultate dieser Projekte.

Cambridge, 18. Oktober 1993
Alice Teichová

Postskriptum der Redaktion:
Weiters finden Sie in diesem Heft ein Gespräch, das Arlette Farge, Colin Jones und Martin Dinges über die Rezeption von Michel Foucaults Arbeiten in den Geschichtswissenschaften geführt haben. Im Forum beleuchtet Jan Horský den Einfluß von Max Weber auf die tschechische Historiographie im Kontext ihrer theoretischen Debatten bis zum Ende der Zwischenkriegszeit. Markus Cerman präsentiert ein Postgraduiertenprogramm in europäischer Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

(1) Hans Kernbauer u. Fritz Weber, Multinational banking in the Danube basin. The business strategy of the Viennese banks after the collapse of the Habsburg monarchy, in: Alice Teiehová., Maurice Levy-Leboyer u. Helga Nußbaum, Hg., Multinational enterprise in historical perspective, Cambridge u. Paris 1986, 185-199.

Inhalte

Alice Teichová
Kontinuität und Diskontinuität: Banken und Industrie

Vlastislav Lacina
Bankensystem und Industriefinanzierung in der Tschechoslowakischen Republik

Josef Faltus
Banken in der Slowakei in der Zwischenkriegszeit

György Kövér
Die zweite Blütezeit: Die Pester Privatbankiers

Hans Kernbauer/ Fritz Weber
Multinationales Banking im Donauraum?

Arlette Farge/Colin Jones/Martin Dinges
Michel Foucault und die Historiker

Jan Horský
Die „Idealtypen“ Max Webers

Markus Cerman
Ein Postgraduiertenprogramm

Ihre Vorteile:
Versandkosten
Wir liefern kostenlos ab EUR 50,- Bestellwert in die EU und die Schweiz.
Zahlungsarten
Wir akzeptieren Kreditkarte, PayPal, Sofortüberweisung