Umfangreiche Studie, die sich neben dem Engagement der Kinderschutzvereine auch mit der historischen Bedingtheit und Interpretation sowohl des Gewalt- als auch des Schutzbegriffs des 19. Jahrhunderts befasst.
Aufgrund mangelnder öffentlicher Einrichtungen für Kinder in schwierigen Lebenssituationen wurden im Lauf des 19. Jahrhunderts sogenannte Kinderschutzvereine gegründet.
Um die Entstehung dieser Vereine im politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umfeld des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu kontexualisieren, werden im ersten Teil der Studie zeitgenössische Diskurse zum Thema Gewalt gegen Kinder in den Bereichen Pädagogik, Medizin und Recht untersucht. Dabei wird die historische Bedingtheit und Interpretation sowohl des Gewalt- als auch des Schutzbegriffs im 19. Jahrhundert herausgearbeitet.
In den von den Kinderschutzvereinen seit den 1830er-Jahren errichteten „Rettungsanstalten“ sollten die Kinder weniger vor Gewalt und Armut gerettet werden, als vielmehr vor „Müßiggang“ und einem „liederlichen“ und „gottlosen“ Leben. Erzogen werden sollten sie zu Gehorsam, Arbeitsamkeit und Sparsamkeit und – je nach Weltanschauung der VereinsaktivistInnen – auch zu Religiosität. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass sich die Kinder schon von klein auf an ein Leben in Armut gewöhnten, d. h. sich in die für sie vorgesehene soziale Stellung fügten.
Insbesondere nach der Revolution von 1848 sollte mit einem Zugriff auf die Kinder der Armen das revolutionäre Potential verringert werden. Hinter dem Engagement der Kinderschutzvereine verbarg sich nicht zuletzt die Sorge der Wohlhabenden um die eigene Sicherheit und den sozialen Frieden, der die Aufrechterhaltung bestehender Machtverhältnisse garantieren sollte. Politisch gestaltete sich der Kampf um die Kinder der Armen zu einem Machtkampf zwischen kirchlichen und säkularen Kräften.
Zugleich können die Kinderschutzvereine in all ihrer Ambivalenz aber auch als ein Beispiel dafür gesehen werden, wie engagierte Frauen und Männer, sei es auf säkularer oder auf religiöser Basis, und vor der Erkämpfung des Sozialstaates, versuchten, gesellschaftliche Missstände durch Selbstorganisation zu verändern. Dabei bildete das Vereinswesen insbesondere für Frauen eine der wenigen Möglichkeiten, gestaltenden Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen.