Reinhard Sieder, Michaela Ralser

Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 1 & 2/2014

Die Kinder des Staates/Children of the State

Die strukturelle Gewalt in Fürsorgeerziehungsanstalten aller Art ist das Ergebnis der sozial- und kommunalpolitischen Ambition, in das Leben, in die Familien und in elterliche Erziehung einzugreifen. Die damit verbundene Ausdehnung staatlicher Herrschaft wurde in vielen europäischen und nordamerikanischen Ländern seit den 1890er Jahren mit den Argumenten der Eugenik bzw. der Rassenhygiene durchgesetzt. Dieser Band der ÖZG nimmt jene Humanwissenschaften in den Blick, die diese Ausdehnung staatlicher Herrschaft und Macht ermöglicht haben: Psychiatrie, Heilpädagogik und Entwicklungspsychologie. Sie zeigten ein starkes Eigeninteresse, sich im Schatten des Souveräns als Gatekeeper des „Lebenswerts“ zu etablieren. Als kategorisierende, diagnostizierende und auch experimentell in das Leben eingreifende, es sogar tötende „Lebenswissenschaften“ haben sie Anteil an der strukturellen Gewaltförmigkeit aller modernen Fürsorgepolitik und Fürsorgeerziehung. Ihr Anteil ist die epistemische Gewalt, mit der sie die Grenzen zwischen Normalität und Abweichung ziehen und zwischen wertvollem und minderwertigem Leben unterscheiden. Diese epistemische Gewalt legitimiert und provoziert die strukturelle Gewalt aller staatlichen Erziehung und insbesondere jene der Fürsorgeerziehung. Sie ermöglicht aber auch die exzessive psychische, physische und sexuelle Gewalt konkreter Erzieher/innen an den nackten Körpern der Erzogenen.


 


Inhalt:


Editorial: Die Kinder des Staates/Children of the state
Verena Pawlowsky: Das „Aussetzen überlästiger und nachtheiliger Kinder“. Die Wiener Findelanstalt 1784–1910
Martin Scheutz: Pater Kindergeneral und Janitscharenmusik. Österreichische Waisenhäuser der Frühen Neuzeit im Spannungsfeld von Arbeit, Erziehung und Religion
Anna Bergmann: Genealogien von Gewaltstrukturen in Kinderheimen
Maria A. Wolf: Kinder als organisches Kapital des Staates. Aspekte einer Eugenisierung von Kindheit 1900–1938
Michaela Ralser: Psychiatrisierte Kindheit – Expansive Kulturen der Krankheit. Machtvolle Allianzen zwischen Psychiatrie und Fürsorgeerziehung
Reinhard Sieder: Das Dispositiv der Fürsorgeerziehung in Wien
Herwig Czech: Der Spiegelgrund-Komplex. Kinderheilkunde, Heilpädagogik, Psychiatrie und Jugendfürsorge im Nationalsozialismus
Nora Bischoff/Flavia Guerrini/Christine Jost: In Verteidigung der (Geschlechter)Ordnung. Arbeit und Ausbildung im Rahmen der Fürsorgeerziehung von Mädchen. Das Landeserziehungsheim St. Martin in Schwaz 1945–1990
Thomas Huonker: „Alle sind auseinander gerissen worden. Keines weiß, wo das andere ist.“ Ein jenisches „Niemandskind“ unter Vormundschaft des Seraphischen Liebeswerks Solothurn
Gudrun Wolfgruber/Elisabeth Raab-Steiner: In fremdem Haus. Zur Unterbringung von Wiener Pflegekindern in Kleinbauernfamilien (1955–1970)
Bernhard Frings/Uwe Kaminsky: Religion als Gehorsam. Konfessionelle Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland (1945–1975)


Forum


Marion Wisinger: „Ich weiß nicht, ob man sich so was vorstellen kann.“ Über den Erkenntnisprozess der Kommission Wilhelminenberg
Christian Schrapper: Systematisches Unrecht im sozialen Rechtsstaat? Zur Auseinandersetzung um die Heimerziehung der 1950er und 1960er Jahre in (West-)Deutschland
Volker Schönwiese/Sascha Plangger: Heilpädagogische Kindheiten. Zur Geschichte der Heimerziehung in der Behindertenhilfe in Tirol
Regina Fritz/Marion Krammer/Philipp Rohrbach: Diskriminiert – Abgelehnt – Vergessen. Kinder afro-amerikanischer GIs und österreichischer Frauen nach 1945. Ein Projektbericht
Gerhard Benetka: „… dass für die Kinder nur das Beste und Schönste gerade gut genug ist.“ Zu Karl Fallend/Klaus Posch, Hg., Schriftenreihe zur Geschichte der Sozialarbeit und Sozialarbeitsforschung.

AutorInnen:


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