Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 14. Jg., Heft 4, 2003

Orte des Okkulten

Dass die Stadt über die fünf Sinne wahrgenommen und angeeignet wird und sich letztlich erst so sinnlich konstituiert, ist keine Neuigkeit. Wie aber steht es um den sechsten Sinn? Wie und wo übersetzen unterschiedliche Medien (im doppelten Sinne) das Meta-Physische und machen es erfahrbar? Auf welche Weise konstituiert sich das Übersinnliche im Kontext von Urbanität? Das vorliegende Heft thematisiert Repräsentationsformen und Wahrnehmungsweisen des Okkulten in der westeuropäischen Großstadt zwischen 1880 und 1930 in unterschiedlichen Kontexten und anhand verschiedener Fallstudien.

Häufig sind Okkultismus und Spiritismus im Zusammenhang mit ›Entmodernisierung‹ beschrieben und analysiert worden. Ihre Entstehung wird gemeinhin auf die Mitte des 19. Jahrhunderts datiert und als Gegenreaktion auf den vordergründigen Rationalismus, Mechanismus und Materialismus der herrschenden weltanschaulichen Strömungen seit der Aufklärung begriffen. Dem umgekehrten Argument zufolge weise sein Selbstverständnis als Geheim-›Wissenschaft‹ den Okkultismus im Gegensatz zur jahrtausendealten Magie oder Astrologie gerade als genuines ›Kind der Moderne‹ aus, in dem Züge des wissenschaftsgläubigen Zeitgeistes zu erkennen seien. Die Ursachen für Entwicklung und Popularität von Okkultismus und Spiritismus werden gewöhnlich in der Enttäuschung über die nicht eingelösten Heilsversprechungen des Industriezeitalters beziehungsweise in einem individuellen Bedürfnis nach ›persönlicher Initiation‹ und der Suche nach einem Ausweg aus einer unüberschaubar gewordenen, kaum mehr handhabbaren und damit als sinnlos wahrgenommenen Moderne gesehen.

Die gegenwärtige Historiographie dominieren vor allem sozial- und ideengeschichtliche Zugänge, die sich auf eng umrissene Fallstudien zu berühmt gewordenen Medienstars und -skandalen wie diejenigen um Karl Friedrich Zöllner (1834- 1882), das sächsische »Blumenmedium« Anna Rothe oder die Fotografien der sogenannten Cottingley fairies (1920/21) beschränken, die spiritistischen Denksysteme und Entwürfe herausragender ›Theoretiker‹ wie etwa Carl du Prel (1839–1899) in einen geisteshistorischen Zusammenhang stellen oder die Geschichte einzelner okkulter Gruppierungen und deren charismatischer Führerfiguren wie Georg von Langsdorff (1822-1921), Fritz Krebs (1832-1905) oder Joseph Weißenberg (1855- 1941) herausarbeiten. Die quantitative Marginalität dieser Gruppen und ihre vermeintliche gesellschaftliche Randstellung darf nicht den Blick für ihre gesellschaftliche Reichweite verstellen. Die von ihnen aufgeworfenen Fragen nach dem Wissbaren und der Sinneswahrnehmung, der Grenze zwischen Leben und Tod, einem Weiterleben im Jenseits sowie nach Religiosität und Spiritualität im Alltag waren alles andere als obskur, irrelevant und peripher – und sind es in der Tat auch heute nicht.

In einer immer wieder zitierten Wendung hat James Webb bereits Anfang der 1970er Jahre pointiert von einem okkulten »Underground of Europe« gesprochen. Doch diese Raummetapher ist nur partiell zutreffend: Obwohl man sich der Tatsache
durchaus bewusst ist, dass sich Endzeitsekten und spiritistische Zirkel neben ausgeprägten ländlichen Traditionen überproportional in industriellen Ballungszentren wie Sachsen, Schlesien und dem Ruhrgebiet, vor allem aber in Großstädten wie Leipzig, Hamburg, Breslau, Wien und Berlin ausbreiteten, haben explizit geographische Aspekte bisher eher wenig Beachtung gefunden. Dieser Band rückt den urbanen Raum und dessen Orte des Okkulten nunmehr ins Zentrum des Interesses. Indem es eine räumliche Dimension in die Geschichte von Okkultismus und Spiritismus einzuziehen versucht, begreift sich dieses Heft der ÖZG als Versuch, die schon länger, jüngst jedoch immer deutlicher zu vernehmende Forderung nach einer Verräumlichung der Geschichtswissenschaft auf einem überschaubaren Feld in historiographische Praxis umzusetzen. Der Titel Orte des Okkulten steht somit für eine doppelte, allen Beiträgen gemeinsame Pointe: Ziel ist es, die Historisierung des Übersinnlichen mit einer räumlich-topographisch ausgerichteten Sichtweise zu verknüpfen. Dieser Zugang lässt sich letztlich auf die epistemologische Fragestellung nach dem Konnex von Wissen und Raum fokussieren.

Die hier vorgelegten Texte beschäftigen sich mit diesem Schauplatz aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Während die ersten drei Hauptaufsätze (Geppert/Braidt, Laqueur, Sawicki) jeweils verschiedene
Aspekte innerhalb des Themenfeldes eher breit und aus einer Außenperspektive abdecken, widmen sich die drei darauffolgenden Texte (Kümmel/Steckiewicz, Barrow, Zander) konkreten Fallstudien und detaillierten Innenansichten. Ein Interview mit Peter Mulacz, dem Vizepräsidenten und Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Parapsychologie und Grenzbereiche der Wissenschaften (Mulacz/ Omahna/Spring) ergänzt den Band.

Mit Ausnahme des Beitrags von Helmut Zander wurden erste Fassungen aller Aufsätze auf dem Workshop Die okkulte Stadt: Orte des Übersinnlichen zur Diskussion gestellt, der am 18. und 19. April 2002 am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien stattfand und von den sieben IFK_Junior Fellows des akademischen Jahres 2001/02 – Andrea B. Braidt, Deborah Broderson, Alexander C. T. Geppert, Jonathan Koehler, Manfred Omahna, Ulrike Spring und Georg Vasold – gemeinsam konzipiert und organisiert wurde. Allen Autorinnen und Autoren sei an dieser Stelle herzlich für die produktive Kooperation gedankt. Ebenso möchten wir dem IFK unseren Dank aussprechen. Dem Staff des IFK, insbesondere Daniela Losenicky, danken wir für tatkräftige Unterstützung. Für wertvolle Kritik, Anregungen und Kommentare sind wir zuletzt Lucian Hölscher, Thomas
Laqueur, Diethard Sawicki, Helmut Zander und Alexander Mejstrik zu großem Dank verpflichtet. Selbst ohne die merkliche Beteiligung übersinnlicher Kräfte kann Wissenschaft mitunter sogar Spaß machen.

Alexander C. T. Geppert / Essen, Andrea B. Braidt / Wien

Inhalte

Alexander C. T. Geppert/Andrea B. Braidt
Moderne Magie: Orte des Okkulten und die Epistemologie des Übersinnlichen, 1880-1930

Thomas Laqueur
Cemeteries and the Decline of the Occult: From Ghosts to Memory in the Modern Age

Diethard Sawicki
Spiritismus und das Okkulte in Deutschland, 1880-1930

Albert Kümmel/Justyna Steckiewicz
Leipzig 1877: Medienepistemologische Zugänge zu Karl Friedrich Zöllners Experimenten mit Henry Slade

Logie Barrow
Plebeian Spiritualism: Some Ambiguities of England’s Enlightenment, Reformation, and Urbanisation

Helmut Zander
Theosophische Orte: Über Versuche, ein Geheimnis zu wahren und öffentlich zu wirken

Peter Mulacz/Manfred Omahna/Ulrike Spring
Rationalisierung des Außersinnlichen? Zur Wissenschaftlichkeit der Parapsycholgie

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