Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 13. Jg., Heft 3, 2002

zeit → geschichte

Zu den Standard-Argumenten der Verteidigung der Geschichtswissenschaft – vor allem im Kontext einer French interpretation of history – gehörte unter anderem, dass sie zwar in vielen Punkten nicht von anderen Sozial- und Humanwissenschaften zu unterscheiden sei, dass sie sich aber als einzige dieses Clusters von wissenschafclichen Disziplinen um Probleme der Zeit kümmere. In einer Ära, in der jede Disziplin genötigt wird, eine unique selling position zu behaupten und zu verteidigen, scheint dies zunächst unmittelbar einsichtig. Tatsächlich scheint die Geschichtswissenschaft die Kategorie Zeit – vielleicht mit Ausnahme des Spezialfaltes der Chronologie – nicht allzu sehr zu beachten. Wer etwa das von André Burguière herausgegebene Dictionnaire de science historique aufschlägt, findet dort überraschenderweise keinen Eintrag zum Begriff Temps, in dem von Michel Serres und Nayla Farouki herausgegebenen Thesaurus der exakten Wissenschaften wird dagegen die Leserin, der Leser ausführlich informiert. Dieses kleine Beispiel ließe sich durch viele weitere ergänzen und bildet lediglich einen Hinweis darauf, dass die Diskussion auf der Seite der Naturwissenschaften sehr viel intensiver als unter Historiker/inne/n geführt wird.

Die ÖZG versucht, diesem Defizit mit einer mehrmaligen Thematisierung von Zeit zu begegnen. Schon 1999 erschien ein Themenheft, das sich mit Ereignis, Zeitmessung und apokalyptischen Zeitvorstellungen beschäftigte: Das Jahr 2000 findet nicht statt (1999/3). In etwa zwei Jahren werden zyklische Zeitkonzepte zum Thema gemacht werden. In diesem Heft nun steht die gerichtete Zeit, der Zeitpfeil, die Irreversibilität von Zeit in Kontexten wie Entropie und Selbstorganisation im Vordergrund. Die Überschrift Zeit → Geschichte bringt dies zeichenhaft zum Ausdruck. Fragen der gerichteten Zeit spielten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts eine Hauptrolle und beschäftigen auch in diesem Jahrhundert eine große Zahl von Forscher/inne/n. Mit Albert Einsteins Relativitätstheorie, die Newtons Mechanik, in welcher Zeit eine umkehrbare Größe gewesen war, einer fundamentalen Revision unterzog und zum Begriff der Raumzeit führte, geriet die Zeit ins Zentrum der Diskussion.

Die Irreversibilität von Zeit, und – damit eng verbunden – die Beschäftigung mit Entropie wurde auch zu einem Hauptthema in der formalen Informations- und Kommunikationstheorie Claude E. Shannons, die weithin rezipiert wurde. In der nächsten wissenschaftlichen Verwandtschaft, bei jener Gruppe, die die Kybernetik erfand, spielte Zeit ebenfalls eine ganz bemerkenswerte Rolle: Schon in Norbert Wieners Kybernetik finden wir ein Kapitel über den Bergsonschen Zeitbegriff, und Theoretiker wie W. Ross Ashby oder Heinz von Foerster bauten Entropie an zentralen Stellen ihres Werks als Argument ein. Weitere – in vielem interdependente – Bereiche wie Selbstorganisationsforschung und wesentliche Teile der neueren Systemtheorie widmen der Kategorie Zeit viel Beachtung.

Gerhard Grössing eröffnet dieses Heft, indem er an ein früheres, nämlich Innovationen. Wie Neues entsteht (2000/1), thematisch anschließt. Die Frage, Warum etwas wird, ist noch einmal, allerdings weiter reichend gestellt. Grössings Artikel schlägt einen großen instruktiven Bogen von Lukrez‘ Theorie zu den Atomen bis hin zu eigenen Experimenten mit Zellulären Automaten. Die Untersuchung von Selbstorganisation und Emergenz in evolutionären Prozessen führt zur Entwicklung von nichtlinearen Modellen für allgemeine Systeme, die auch auf historische Prozesse anwendbar sind. Die interessante Arbeit von Manuel de Landa A Thousand Years of Nonlinear History erfährt dabei eine ausführliche Diskussion. Die untersuchte Systemdynamik ist durch Irreversibilität und Zeit-Pfeil charakterisiert, wenn rekursive Prozesse und signifikante Fluktuationen um einen Mittelwert festgestellt werden können.

Karl H. Müller, ein den Leser/inne/n dieser Zeitschrift bereits wohlbekannter Autor, schreibt über die Pfeile der geschichtlichen Zeit. Auf der Basis von in letzter Zeit zunehmend thematisierten Parallelen kosmischer Geschichte und Evolutionsgeschichte verfolgt der Artikel zwei Ziele: die Entwicklung einer Interpretation von Evolution als Entropie und sodann die Formulierung der These, dass Historiographie durch neue Zugänge zu den Pfeilen evolutionärer und thermodynamischer Zeit profitieren könnte. Sieben Anwendungsfelder werden präsentiert, sieben entsprechende Heuristiken werden dargestellt.

Albert Müller widmet sich in einer Fallstudie dem Thema Ereignis im Zeitverlauf. Fragen und Hinweise, ob ein >Ereignis< die Welt verändert oder nicht, stehen am Beginn der Diskussion. Alain Resnais‘ Filme Smoking / No Smoking, die hier als >Lehrstück< im Kontext wichtiger Grundfragen der Geschichtswissenschaften gesehen werden, dienen als Beispiel dafür, dass kleine, unbedeutende Ursachen große Auswirkungen zeitigen können. Denn eine einzelne Ausgangssituation erzeugt in diesem Film zwölf unterschiedliche Geschichten. Nachdem auf die besondere Struktur des Filmes eingegangen wurde, werden einige seiner Merkmale einer Diskussion unterzogen.

Auch Helmut Kramer greift Themen der ÖZG 2000/1 auf: Christian Fleck veröffentlichte dort einen Artikel zur – bisweilen skandalösen – Geschichte von der Gründung der bislang einzigen Einrichtung zur postgraduaten Ausbildung von Sozialwissenschaftler/inne/n in Österreich, dem Institut für höhere Studien. Fleck rekonstruierte dort eine Sphäre durchaus widersprüchlicher Interessen von philanthropisch geprägten amerikanischen Stiftungen, einer Gruppe aufklärerisch gesonnener Wissenschaftsemigranten, österreichischen Regierungsstellen, wienerischen local heroes, und einzelnen Profiteuren, die die wissenschaftlichen Intentionen der Stiftungen wie der Emigranten-Gruppe nicht zuletzt zu Gunsten eigener pekuniärerund Macht-Interessen preisgaben. Kramer nun, selbst einer der ersten Scholaren des IHS und der Position Flecks prima facie kritisch gegenüberstehend, erschloss weitere Dokumente, die Flecks Befund weitgehend bestätigen, zudem gibt seine Darstellung nun eine Antwort auf die Frage, wie eine jüngere Generation sich aus dieser >prekären< Situation zu befreien suchte.

Historiographiegeschichte beschäftigt die ÖZG seit ihrer ersten Ausgabe. Georg Iggers, einer der ersten und bedeutendsten Initiatoren einer Selbstthematisierung der Geschichtswissenschaften und – nach wie vor – einer ihrer aufmerksamsten Beobachter spricht sich – unter anderem – dafür aus, die Perspektiven weiter zu entwickeln.

Florian Mildenberger präsentiert im Forum ein Forschungsprogramm zu Jakob von Uexküll, fern jener Idealisierungen, die in manchen >Ganzheits-Diskursen< gang und gäbe geworden sind. Genaue biographische und werkgeschichtliche Erhebungen lassen in mehrfacher Hinsicht eine Revision gängiger Interpretationen erwarten. Mario Wimmer widmet sich abschließend einigen der Standardprobleme der institutionalisierten Praktiken des Konzerns Geschichtswissenschaft, Archiven, Akten, Zettelkästen nämlich, die im Rahmen neuer medienhistorischer Zugangsweisen fern der Konventionen thematisiert werden können.

Ich möchte nicht versäumen, zwei Personen, die die Herausgabe von Zeit → Geschichte in vielen Arbeitsstunden praktisch unterstützt haben, ganz herzlich zu danken: Maria Mesner und Anton Staudinger.

Albert Müller, Wien

Inhalte

Gerhard Grössing
Warum etwas wird. Zur Selbsrorganisation rekursiver Erprobungen im Möglichkeitsraum

KarJ H. Müller
Die Pfeile der geschichtlichen Zeit

Albert Müller
Smoking / No smoking – Ereignis im Zeitverlauf

Helmut Kramer
Wie Neues doch entstanden ist. Zur Gründung und zu den ersten Jahren des Instituts für Höhere Studien in Wien

Georg G. Iggers/ Albert Müller
… oder wir entwickeln uns weiter

Florian Mildenberger
Überlegungen zu Jakob von Uexküll (1864-1944). Vorläufiger Forschungsbericht

Mario Wimmer
Archive, Akten, Zettelkästen

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