Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften Jg. 26, Heft 2, 2015

Frauen Politik Transformation/Women Politics Tansformation

In diesem Band geht es um Macht und Politik,1 Begriffe, die die bürgerliche Moderne grundlegend prägen. Mit Michel Foucault fassen wir Macht als ein omnipräsentes, alles durchdringendes Verhältnis, das in seiner politischen Dimension die Möglichkeiten und Begrenzungen meint, Ziele und Interessen im institutionalisierten politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess durchzusetzen. Dieser Prozess hat Auswirkungen auf das Feld der institutionellen Politik.2 Um institutionelle politische Macht mit Frauen in Verbindung zu bringen, um mit dem "Suchen" und dem "Graben" beginnen zu können – wie es in der Frühzeit der Historischen Frauenforschung hieß -,3 mussten Fragestellungen entwickelt werden, die abseits des historio­grafischen Mainstreams lagen. Dies galt in besonderer Weise für das Themenfeld der politischen Akteurinnen und der geschlechtsspezifischen politischen Teilhabe, für das Staatsbürgerinnentum sowie für die (institutionalisierten) Politikerinnen in Parteien und Parlamenten. Bereits in ihrer Frühzeit hinterfragte Frauen- und Geschlechtergeschichte kritisch den herkömmlichen Politikbegriff der Geschichtswissenschaften, der sich meistens an staatlich organisierten Rahmungen orientierte. Das lange Zeit als Allgemeine Geschichte bezeichnete Paradigma der Politikgeschichte vernachlässigte kulturelle, ökonomische und soziale Aspekte. In kritischer Wendung dagegen formierte sich in Frankreich schon Ende der 1920er Jahre die Annales-Schule; im deutschen Sprachraum entstanden zur selben Zeit Sozialgeschichte, Wirtschaftsgeschichte und Kulturgeschichte. Ab Mitte der 1970er Jahre ging daraus eine Historische Sozialwissenschaft, ab den 1980er Jahren eine neue Kulturgeschichte hervor.4 Die etwa zur gleichen Zeit entstehende Frauen- und Geschlechtergeschichte forderte einen "erweiterten Politikbegriff" und war damit konstitutiver Part dieser erheblichen Erweiterung und Veränderung der Geschichtswissenschaften. In ihrer Perspektive wurde die androzentristische Sichtweise auf das Feld des Politischen dekonstruiert; Frauen wurden als Akteurinnen im politischen Feld erstmals ‚sichtbar‘ gemacht, denn die Mainstream-Geschichtsschreibung hatte sie entweder gar nicht wahrgenommen oder als "Non-actors", wie es Joan W. Scott bezeichnete, aufgefasst.5 Der neue Fokus inspirierte auch die "Neue Politikgeschichte".6 Chantal Mouffe versteht das Politische oder die Politik als Praktiken und als Institutionen, durch die gesellschaftliches Zusammenleben organisiert und soziale Ordnungen geschaffen werden.7 Dem entsprechend legt die Neue Politikgeschichte ihren Schwerpunkt auf die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Politik und fasst mit sozial-, alltags-, geschlechter- und kulturgeschichtlichen Ansätzen das Politische neu. Erst damit traten auch scheinbar politisch nicht mächtige Bevölkerungsgruppen – jenseits von älteren Konzepten der "Masse" – in den Blick der Neuen Politikgeschichte.8 Diese begann sich u.a. für Aktionsformen von Frauen zur Erlangung von Bürger/innenrechten zu interessieren. Akteurinnen und Orte, die zuvor außerhalb des Politischen lagen, wurden erstmals politisch relevant. So fand die "Inszenierung der Suffragetten" außerhalb des Raumes institutioneller Politik statt9 und die hier für das politische Stimmrecht kämpfenden Frauen wurden als nicht politikwürdig eingestuft. Auch das Engagement der in Ausbildungs-, Bildungs- und Wohltätigkeitsvereinen organisierten Frauen in der Habsburgermonarchie und in der Schweiz – dies ist die geografische Reichweite des vorliegenden Bandes – fand lange Zeit keine Beachtung in nationalen Politikgeschichten.10 Dem kritisch entgegentretend, legte die Frauen- und Geschlechtergeschichte von Beginn an theoretische Konzeptionen und empirische Studien zum "Geschlecht der Politik" vor.11 Dabei sind seither mehrere Forschungskonjunkturen zu beobachten, die offenbar mit den die Zeitgenoss/inn/en jeweils besonders bewegenden geschlechterpolitischen Fragen zusammenhängen. Die Geschichte der Frauenbewegungen etwa war von Beginn an ein Thema;12 die Frage der Körper/Politiken hingegen erfuhr erst seit den 2000er Jahren wachsende Aufmerksamkeit. Der vorliegende Band der ÖZG fokussiert Felder institutionalisierter Politik, in denen sich im Lauf von Jahrhunderten androzentristischer Kultur von Männern definierte Normen, Regeln und Praktiken und entsprechend vergeschlechtlichte Machtverhältnisse etabliert hatten.13 Die Autor/inn/en der Beiträge dekonstruieren die scheinbare Geschlechtsneutralität der politischen Institutionen und fragen nach der Geschichtsmächtigkeit des Geschlechts. Politische Praktiken, Diskurse und Machtverhältnisse und die mit ihnen einhergehenden Ein- und Ausschlüsse werden analysiert und an Fallbeispielen deutlich gemacht. Der Begriff Frauen in der Trias Frauen Politik Transformation, die diesem Band Titel und Rahmung gibt, bezieht sich auf die zeitgenössisch relevanten und wirkmächtigen Differenz- und Gleichheitskonzepte. Die Frauen- und Geschlechtergeschichtsschreibung ist von vielerlei Paradoxien gekennzeichnet, die sie freilich reflektiert. So zeigte Hanna Hacker, dass Frauen – definiert als Menschen mit "weiblichem Ausgangsgeschlecht" -, die die Geschlechtergrenzen vor dem Ersten Weltkrieg (auch) im Feld des Politischen überschritten, den Aspekt der Transgression verkörperten. Und sie erkundete, ob in diesen transgressiven Akten Geschlechterdifferenzen aufgehoben wurden und formulierte die provokante Frage "Waren sie da noch Frauen"?14 Dieses konsequente Denken von Geschlecht als sozial-kulturelle Kategorie und als Träger von Machtverhältnissen führt zur Infragestellung der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit auf einer konzeptionellen Ebene. Hingegen waren und sind die Zeitgenoss/inn/en mit den ihre Alltagswelten strukturierenden Bedeutungen von Männlichkeit und Weiblichkeit konfrontiert. Daran schließt das von Joan W. Scott entwickelte Konzept des feministischen Paradoxons an. Die bürgerliche Moderne hat Geschlecht zu einer Strukturkategorie gemacht, mit welcher der Einschluss in bzw. der Ausschluss aus gesellschaftlichen Institutionen verfügt wurde und wird. Diese Zweigeschlechtlichkeit bildet Hierarchien und strukturiert Machtverhältnisse. Auf der Suche nach Emanzipationsstrategien setzen die Frauenbewegungen ebenso wie die Frauen- und Geschlechtergeschichte mit ihrem Anspruch, eine emanzipatorische, die Gesellschaft verändernde Wissenschaft zu sein,15 bei dieser Zweigeschlechtlichkeit an – womit sie aber gleichzeitig Teil von deren Reproduktion werden. Dieses Paradoxon auszuhalten und es produktiv zu wenden, wird durch das Wissen über die Mechanismen der Re/Produktion von Wirklichkeiten durch Begrifflichkeiten gespeist. Dieser Befund gilt auch für die Trias der Frauen- und Geschlechtergeschichte race-class-gender, die durch postcolonial, critical white, gay und queer studies inspirierte Erweiterungen sowie im Konzept der Intersektionalität eine theoretische Rahmung erfuhr.16 Entstehungskontexte der jeweiligen Wissensproduktion einzubeziehen ist Ausdruck und Leistung der Selbstreflexivität, die auch die Frauen- und Geschlechtergeschichte auszeichnet. Frauenpolitische Aktivistinnen übertreten die geltenden Gesetze, um selbst Gesetzgeberinnen zu werden. Mit diesen Worten charakterisierte im Jahre 1903 Emmeline Pankhurst, Suffragette und Gründerin der Women’s Social and Political Union (WSPU), den Kampf um das Frauenstimmrecht in Großbritannien.17 Die militanten Aktionsformen der Suffragetten zur Durchsetzung des Frauenstimmrechts vor dem Ersten Weltkrieg, Straßenschlachten mit der Polizei, Sachbeschädigungen durch Bomben oder Hungerstreiks bei Gefängnisaufenthalten, wurden nur von einer kleinen Minderheit getragen. Gleichwohl prägten sie nachhaltig das historische Gedächtnis über den Wahlrechtskampf der Frauen und die Durchsetzung ihrer Politikfähigkeit. Die Bilder von fein gekleideten Damen im Korsett mit Hut und Schirm, die auf Polizisten einschlagen oder von diesen gewaltsam verhaftet und weggetragen werden, gingen um die Welt und sind heute auf Youtube abrufbar. Die Transgression, die den Aktionen der Suffragetten innewohnte, bestand vor allem im Benehmen dieser Frauen, das die bürgerliche Geschlechterordnung und den weiblichen Geschlechtercharakter konterkarierte. Die Besetzung der Straße und des öffentlichen Platzes machte aus ihnen einen außerparlamentarischen politischen Verhandlungsort. Aber auch das Gefängnis – Ort der Bestrafung – wurde von Frauen bürgerlicher Herkunft als Skandalon inszeniert und entsprechend medial reproduziert.18 Paradoxerweise blieb die Radikalität der Transgression auf die öffentliche Performanz der Suffragetten beschränkt, denn inhaltlich forderten sie lediglich ein Frauenwahlrecht nach dem Modell des bestehenden Männerwahlrechts, somit ein nach Einkommen limitiertes, meritokratisches, ungleiches Wahlrecht. Der performativ radikalsten Frauenstimmrechtsbewegung Europas fehlte es an Radikalität, die Umwandlung der Gesellschaft in eine Gesellschaft gleicher Bürgerinnen und Bürger zu verlangen. Im Gegensatz zu den britischen Suffragetten forderte das Gros der Frauenstimmrechtsbewegungen in Zentraleuropa das allgemeine, geheime, gleiche, aktive und passive Wahlrecht ohne Unterschied des Geschlechts. Ute Gerhard setzt diesen Befund mit der unterschiedlichen Bedeutung des Begriffes Recht in Verbindung. Im Gegensatz zum Englischen steckt im deutschen Wort Recht nicht nur die herrschende Gesetzgebung, sondern auch ein "überschießender, utopischer Gehalt von ‚richtigem‘ Recht oder Gerechtigkeit", der auf die Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse zielt.19 Ähnlich verhält es sich im Tschechischen: Právo bedeutet neben Recht im Sinne der Gesetzgebung auch einen Anspruch auf etwas, der Wortstamm prav ist sowohl in pravda (Wahrheit) als auch in spravedlnost (Gerechtigkeit) enthalten.20 Um Frauenbewegungen, politische Akteurinnen und um Institutionen des Politischen in deutschen, schweizerdeutschen, französisch-schweizerischen und tschechischen Sprachräumen geht es in diesem Band. Dabei sind zwei Ebenen von Transformation zu unterscheiden. Zum einen die historischen Transformationen der politischen Systeme von der Habsburgermonarchie zu zwei ihrer Nachfolgestaaten in Form der Österreichischen und der Tschechoslowakischen Republik. Damit ging die Streichung des § 30 im Vereinsgesetz der Habsburgermonarchie einher, der Frauen verboten hatte, Mitglieder in politischen Vereinen zu werden, sowie die Verankerung des Passus "ohne Unterschied des Geschlechts" im Wahlrecht. Damit wurde aber auch die Möglichkeit eröffnet, die von den Frauenbewegten angestrebten Transformationen im Feld des Politischen umzusetzen, das hieß sogenannte ‚Frauenthemen‘ als politikwürdig festzulegen und den politischen Stil zu verändern. Zum anderen wird am langen Kampf um das Frauenwahlrecht in der androzentristischen Demokratie der Schweiz deutlich, dass eine gravierende Veränderung im Feld der institutionellen Politik immer auch mit Veränderungen in anderen Feldern einher geht. Brigitte Studer zieht in ihrem Beitrag einen langen Bogen von der Gründung des Schweizer Bundesstaates mit seinem allgemeinen und gleichen Wahlrecht (der Männer) bis zur Einführung des Frauenwahlrechts auf Bundesebene. Frauen hatten bis 1971 keinen Anteil an politischen Entscheidungen des oftmals als "älteste" Demokratie bezeichneten Staates. Die Untersuchung belegt, wie eng das Konzept des Bürgers in der bürgerlichen Moderne und speziell die Praxis der Staatsbürgerrechte mit Geschlechterkategorien verknüpft ist. Strukturelle, kulturelle, lebensweltliche und symbolische Faktoren verhinderten in der Schweiz bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts den gleichstellungspolitischen Wandel. Studer fragt nach dem Prozess der Normalisierung dieses Ausschlusses und nach Legitimationsstrategien, -praktiken und -narrativen. Sie führt diese anhand von Bildanalysen verschiedener Wahlplakate zu den Abstimmungen über das Frauenrecht im 20. Jahrhundert anschaulich vor. Auch die weiteren Beiträge des Bandes verweisen auf Phasen von Persistenz und Transformation des politischen Feldes und untersuchen, welche Strategien Aktivistinnen und Frauen-Organisationen entwickelten, um sich im Feld des Politischen "Sitz und Stimme" zu verschaffen. Eine herbe Überraschung erlebten die Akteurinnen der bürgerlich-liberalen Frauenbewegung in der Ersten Republik Österreichs, wie Birgitta Bader-Zaar zeigt. Frauen, die seit Jahrzehnten die politische Teilhabe von Frauen gefordert hatten und auf Parteilisten kandidieren wollten, um in den Nationalrat einzuziehen, scheiterten – auch weil sich österreichweit keine liberale Partei etablieren konnte. Bader-Zaar verweist auf große Unterschiede im politischen Handeln in den österreichischen Bundesländern. Die Gründung der Frauenpartei im Jahre 1929 sollte der Zersplitterung und politischen Bedeutungslosigkeit entgegenwirken. Gefragt wird nicht nur nach den Akteurinnen, sondern auch nach den Institutionen, hier vor allem der Parlamente und der Parteien und ihrer männlichen Funktionäre und Mandatare: Wie wurde auf die Staatsbürgerin reagiert? Mutierte die der Figur der politischen Frau entgegengebrachte Misogynie zu einer strategischen Akzeptanz der Wählerin als potentielle Mehrheitsbringerin? Ein zentraler Aspekt dieser Analysen ist die selbst- und fremdbestimmte Modellierung des Subjekts Politikerin. Wurden die für Frauen neuen politischen Räume weiterhin von den eingesessenen männlichen Eliten konstruiert? Oder gelang es Frauen, diese politischen Räume nach eigenen Vorstellungen mitzugestalten? Die Beiträge thematisieren und analysieren die Performanz von Frauen im politischen Feld, mit der sie ihre Ziele und Wünsche artikulierten und durchzusetzen versuchten. Die Autor/inn/en fragen, wie diese Performanz mit der herrschenden Geschlechterordnung und den Geschlechtscharakteren korrespondierte. Eindrucksvoll und leicht nachvollziehbar können diese Fragen an biografischen Fällen diskutiert werden. Luboš Velek, Jana Malínská, Johanna Gehmacher, Dana Hulková Nývltová und Veronika Helfert rekonstruieren biografische Aspekte herausragender Frauen in der Habsburgermonarchie; ihre Handlungsräume, ihre politischen Weltanschauungen und ihre Positionierungen in den Geschlechterverhältnissen und Geschlechterbeziehungen waren jedoch sehr unterschiedlich. Ein Aufsehen erregendes Ereignis erzählt und analysiert Luboš Velek. Im Jahre 1912 gelang es – zum ersten Mal in der Habsburgermonarchie – einer Frau, in ein regionales Parlament gewählt zu werden. Dies geschah im Kontext der Wahlgesetzgebung in den böhmischen Ländern, die die aktiven und passiven Wahlberechtigten nicht geschlechtlich codierte. Velek verweist auf die politischen Ränkespiele zwischen den Politiken des Zentrums in Prag und der Peripherie und zeigt, wie die internationale Rezeption die gewählte Božena Viková-Kunetická – ungeachtet ihrer konservativen Ansichten in Geschlechterfragen – zu einer feministischen Heroin stilisierte. In den böhmischen Ländern selbst hingegen wurde die Wahl einer Frau als "Schande" bezeichnet und zum Anlass genommen, eine Widerstandsfront gegen die politische Gleichberechtigung der Frauen zu bilden. Jana Malínská rekonstruiert Aspekte des privaten und des politischen Lebens der Olga Stránská-Absolonová (1872-1927), die, früh Witwe geworden, sich frauenpolitisch zu engagieren begann und in führende Positionen der tschechischen bürgerlichen Frauenbewegung wie auch in der Tschechischen Fortschrittspartei unter Jan Masaryk aufstieg. Stránská betätigte sich realpolitisch, war Initiatorin von Sozial­projekten zur Unterstützung von Müttern und Kindern und verfasste theoretische Schriften. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg reflektierte sie die Wirkung der zu erwartenden Demokratisierungs- und Emanzipationsprozesse auf die weibliche Identität und die Geschlechterbeziehungen. Wie sehr die Kategorie der Nation auch in der Ersten Republik Österreichs frauenbewegtes Engagement durchzog, zeigt Johanna Gehmacher an der großdeutschen Politikerin Emmy Stradal (1877-1925). Stradal kam als Abgeordnete für die Großdeutsche Volkspartei in den Nationalrat und wurde als erste Frau eine der fünf Stellvertreter des Parteiobmannes ihrer Partei. Gehmacher analysiert Stradals Bemühungen um Allianzen mit Frauen anderer politischer Parteien. Inhaltlich ging es ihr dabei vor allem um Frauen- und Mädchenbildung, die sie zu pragmatischen Kompromissen mit der sozialdemokratischen Bildungsreform in Wien veranlasste, wobei ihre völkisch-antisemitische Denkweise stets sichtbar blieb. Die spärlichen ego-dokumentarischen Zeugnisse Stradals werden durch die Interpretation und Analyse ihrer literarischen Texte ergänzt. Dana Hulková Nývltová untersucht das literarische und politische Wirken der Schriftstellerin Marie Majerová (1882-1967), eine der bekanntesten systemkonformen Schriftstellerinnen der Zweiten (sozialistischen) Tschechoslowakischen Republik. Die sozialdemokratische Aktivistin trat 1921 in die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei über, aus der sie 1929 ausgeschlossen wurde. Majerová definierte sich als Kommunistin und lehnte die Bezeichnung Feministin für sich ab, wiewohl sie von der Notwendigkeit der Transformation der Geschlechterverhältnisse überzeugt war und sich dafür auch engagierte. Veronika Helfert schreibt über Ilona Duczynska Polanyi (1897-1978), eine linke Aktivistin, an deren Biografie Schwierigkeiten mit "männlichen" Parteistrukturen deutlich werden. Duczynska wurde sowohl aus der Kommunistischen Partei Ungarns als auch aus der österreichischen Sozialdemokratie ausgeschlossen. Helfert rekonstruiert Duczynskas Selbstinszenierung als Revolutionärin und kombiniert zu diesem Zweck autobiografisches Material mit schriftstellerischen und politischen Texten der Protagonistin. Mit Majerová teilt Duczynska die Betonung des Vorrangs politischen Handelns und unterscheidet sich von Stradal in ihrem "Weltenbürgerinnen-Dasein". Sie war eine Reisende, deren Leben und Aktivismus von den transnationalen Verflechtungen linker und kommunistischer Akteurinnen und Akteure zeugen. In den ruhigeren Phasen ihres Lebens suchte sie ihre politische Praxis theoretisch aufzuarbeiten, wobei sie der Frage der Legitimität politischer Gewalt zentrale Bedeutung zumaß. Wie Majerová wies sie die Bezeichnung Feministin von sich, wiewohl ihr Aktivismus und ihre Theoretisierung von Gewalt die frauenspezifisch markierten Grenzen der bürgerlichen Geschlechterordnung negieren. Das Forum bringt drei weitere, kürzere Beiträge. Marie Bahenská präsentiert einen Überblick über Forschungen der Frauen- und Geschlechtergeschichte in der Tschechischen Republik in den letzten zwanzig Jahren. Dana Musilová thematisiert noch einmal den Zusammenhang von Nationalität und Parteizugehörigkeit in den böhmischen Ländern und analysiert in diesem Kontext die ersten Partei-Politikerinnen sowie deren Wirkung auf die Gestaltung der Tschechoslowakischen Republik. Irene Bandhauer-Schöffmannn thematisiert die gesellschaftspolitische Transformation Österreichs von der ersten demokratischen Republik in eine ständestaatliche, austrofaschistische Diktatur. Sie nimmt die katholische Frauenorganisation in den Blick, deren Funktionärinnen – an der Spitze Fanny Starhemberg – diese regressive, anti-moderne Transformation begrüßten, da sie sich nicht nur eine "Befriedung" des Klassenkampfes, sondern auch Handlungsspielräume für sich selber erhofften. Die Herausgeberinnen und Herausgeber der ÖZG trauern um ihren Freund und Kollegen Siegfried Mattl, der am 25. April 2015 verstorben ist. Wir erinnern uns an ihn in einem Nachruf.

Gabriella Hauch (Wien) Regina Thumser Wöhs (Linz) Luboš Velek (Prag)

 

Anmerkungen

1 Mit dem Satz "In dieser Geschichte geht es um Macht" eröffnet Fabienne Amlinger ihre ausgezeichnete, im März 2015 an der Universität Bern verteidigte Dissertation über die Partei-Frauenorganisationen in der Schweiz nach der Einführung des Frauenwahlrechts; Fabienne Amlinger, Im Vorzimmer zur Macht? Die Frauenorganisationen der SPS, FDP und CVP (1971 bis 1995), phil. Diss., Universität Bern 2014, 8.

2 Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1983.

3 Karin Hausen, Einleitung, in: dies., Hg., Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, München 1983, 10 f.

4 Ute Frevert, Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen, in: dies./Heinz-Gerhard Haupt, Hg., Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt am Main 2005, 2-26; Heinz-Gerhard Haupt, Historische Politikforschung: Praxis und Probleme, in: ebd., 304-313.

5 Joan W. Scott, Women in History. The Modern Period, in: Past & Present (1983) 101, 141-157, 154.

6 Ute Frevert, Neue Politikgeschichte, in: Joachim Eibach/Günther Lottes, Hg., Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2006, 152-164.

7 Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt am Main 2007, 16.

8 Ein frühes Beispiel aus Österreich: Helene Maimann, Bemerkungen zu einer Geschichte des Arbeiteralltags, in: Gerhard Botz u.?a., Hg., Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte, Wien 1978, 599-628.

9 Jana Günther, Die Inszenierung der Suffragetten in Großbritannien, Freiburg im Breisgau 2006.

10 Selbst 1995, als der Band Politische Öffentlichkeit der Geschichte der Habsburgermonarchie 1848-1918, herausgegeben von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, bereits vor der Endredaktion stand, wurden quasi kurz vor der Fertigstellung noch "Frauenthemen" hineinreklamiert. (Dass der Band erst 2006 erschien, hatte andere Gründe.) Birgitta Bader-Zaar schrieb über das Frauenstimmrecht, Renate Flich über Bildung, Gabriella Hauch über die Frauenbewegung als politische Bewegung sowie Susan Zimmermann über den ungarischen Teil der Monarchie, in: Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. VIII/1: Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, hg. v. Helmut Rumpler u. Peter Urbanitsch i. A. der Kommission für die Geschichte der Habsburgermonarchie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2006.

11 Vgl. Maria Mesner u.a., Das Geschlecht der Politik, Wien 2004; Birgitta Bader-Zaar/Johanna Gehmacher, Öffentlichkeit und Differenz. Aspekte einer Geschlechtergeschichte des Politischen, in: Johanna Gehmacher/Maria Mesner, Hg., Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen/Perspektiven (= Querschnitte 14), Innsbruck u.a. 2003.

12 Vgl. zuletzt: Johanna Gehmacher/Natascha Vittorelli, Hg., Wie Frauenbewegung geschrieben wird. Historiographie, Dokumentation, Stellungnahmen, Bibliographien, Wien 2009; vgl. auch Franzisca de Haan/Krassimira Daskalova/Anna Loutfi, Hg., A Biographical Dictionary of Women’s Movements and Feminisms. Central, Eastern and South Eastern Europe, 19th and 20th Centuries, Budapest/New York 2006.

13 Robert W. Connell, The State, Gender and Sexual Politics. Theory and Appraisal, in: Lorrain H. Radke/Henderikus J. Stam, Hg., Power/Gender. Social Relations in Theory and Practice, London 1994, 507-544; vgl. Pierre Bourdieu, Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001.

14 Hanna Hacker, Gewalt ist: keine Frau. Der Akteurin oder eine Geschichte der Transgressionen, Königstein im Taunus 1998, 10 u. 45.

15 Herta Nagl-Docekal, Feministische Geschichtswissenschaft – ein unverzichtbares Projekt, in: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 1 (1990) 1, 7-18.

16 Vgl. Gudrun-Axeli Knapp, Travelling Theories: Anmerkungen zur neueren Diskussion über "Race, Class, and Gender", in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG) 16 (2005) 1, 88-110; Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Deutsch von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny, mit einer Einleitung von Hito Steyerl, Wien 2007; mit historischen Beispielen: Sabine Hess/Nikola Langreiter/Elisabeth Timm, Hg., Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen, Bielefeld 2010.

17 June Purvis, Gendering the Historiography of the Suffragette Movement in Edwardian Britain: some reflections, in: Women’s History Review 22 (2013) 4, 576-590, 578.

18 Vgl. Blanca Rodríguez-Ruiz/Ruth Rubio-Marín, Hg., The Struggle for Female Suffrage in Europe. Voting to Become Citizens, Leiden/Boston 2012; Birgitta Bader-Zaar, "With Banners Flying": A Comparative View of Women’s Suffrage Demonstrations 1906-1914, in: Matthias Reiss, Hg., The Street as Stage. Protest Marches and Public Rallies since the Nineteenth Century, Oxford/New York 2007, 105-124.

19 Ute Gerhard, Im Schnittpunkt von Recht und Gewalt – zeitgenössische Diskurse über die Taktik der Suffragetten, in: Sandra Maß/Xenia von Tippelskirch, Hg., Faltenwürfe der Geschichte. Entdecken, entziffern, erzählen, Frankfurt am Main/New York 2014, 416-430, 430.

20 Für den Hinweis sei Dana Cerman-Štefanová gedankt.

Inhalte

Brigitte Studer
Das Frauenstimm- und Wahlrecht in der Schweiz 1848-1971

Luboš Velek
„Der“ erste weibliche Abgeordnete der Habsburgermonarchie im Böhmischen Landtag 1912

Jana Malínská
Frauen in der Politik: (un)erwünscht! Olga Stránská-Absolonová (1872-1927)

Birgitta Bader-Zaar
Die politische Partizipation der bürgerlich-liberalen Frauenbewegung in Österreich 1918-1934

Johanna Gehmacher
Die großdeutsche Politikerin Emmy Stradal? (1877-1925). Biografische Fragmente politische Kontexte

Dana Hulková Nývltová
Schriftstellerin zwischen Feminismus und Kommunismus: Marie Majerová (1882-1967)

Veronika Helfert
Eine demokratische Bolschewikin: Ilona Duczynska Polanyi (1897-1978)

Marie Bahenská
Frauengeschichtsschreibung in Tschechien

Dana Musilová
Partei-Politikerinnen in den böhmischen
Ländern

Irene Bandhauer-Schöffmann
Remaskulinisierung. Die Katholische Frauenbewegung
in Österreich in den 1930er Jahren

Gabriella Hauch, Albert Müller
In memoriam
Siegfried Mattl (1954-2015)

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