Anfang des Jahres 1972 erhielt der amerikanische, aus Wien stammende Professor – wie viele andere seiner Kollegen – einen Telefonanruf, in dem er gefragt wurde, welche die „most ‚creative and extraordinary‘ people“ seien, die er persönlich kenne. Der Adressat des Anrufes, Heinz von Foerster, fand nicht nur Gefallen an der Frage und antwortete entsprechend, sondern er gab auch Hinweise, wie mit dem nun gesammelten Material verfahren werden könnte. Am 13. März 1973 schrieb er an den Leiter der Untersuchung:
„I suggest you do a ‚cluster analysis‘ on your data and represent this on a ‚dendrogram‘ as it was recently done in our School of Life Sciences. If you wish to do such a thing, and want to know more of how to do it, I can supply you with details (or even with help (computer time and programming)) […] Another possibility would be to draw a ‚friendship net‘ […]“.(1)
Nota bene: friendship bezeichnete 1973 wahrscheinlich etwas anderes als im Jahr 2012, in dem ‚Freundschaft‘ durch den kollektiven und obsessiven Gebrauch bestimmter Kommunikationssoftware wie Facebook gewissermaßen semantisch in Beschlag genommen wird. Das Beispiel zeigt uns einerseits, dass Foerster versuchte, die Untersuchung von der Vorstellung eines Rankings weg und hin zur Idee der Nachbarschaften (clusters) und des Netzwerks zu bringen, andererseits zeigt es, dass in einem Forschungslabor, das ganz anderen Zielen gewidmet war, Netzwerkbegriff und Netzwerkanalyse zu den zur Auswahl stehenden Standardtermini und -methoden zählten. Dieser Befund wird auch durch den Umstand gestützt, dass Foerster als Herausgeber eines enzyklopädieähnlichen Kompendiums zur Kybernetik zweiter Ordnung 1974 einige seiner Studierenden zu den Autoren dieser Publikation Begriffsnetze anfertigen ließ.(2)
Dieses Beispiel liegt aber auch ein wenig quer zur offiziellen Erzählung der Geschichte der Sozialen Netzwerkanalyse, dergemäß es im Wesentlichen ein Zentrum der Entwicklung und des Gebrauchs dieser Technik gegeben habe, nämlich Harvard, mit Harrison White in führender Position (Stichwort: Harvard revolution). Wir sind im Übrigen überzeugt, dass sich nach kurzem Suchen viele weitere Elemente einer solchen dezentralen Geschichte der Netzwerkanalyse finden ließen. Dabei muss die Ideengeschichte des Begriffs Netzwerk von der engeren Geschichte der Entwicklung von Verfahren der Netzwerkanalyse getrennt werden, obgleich beide Bereiche immer wieder aufeinander verweisen.(3)
Die Soziale Netzwerkanalyse (SNA) hat einen allgemein akzeptierten und effizienten Code zur Beschreibung von Netzwerken entwickelt, der bei der Untersuchung komplexer Systeme seine Stärken ausspielt, indem er eine abstrakte und sehr effiziente Beschreibungssprache, die man als „language of networks“ bezeichnen kann, mit einem Set von Verfahren verbindet, die Position, Einbettung, Gruppierung oder auch strukturelle Besonderheiten von Akteuren und Akteursgruppen sichtbar machen kann. Von Anbeginn verbindet Netzwerkanalyse Strukturbeschreibung, -messung und -visualisierung. Diese analytische „Sprache des Netzes“ (language of networks) beschreibt die Transformationsregeln von der empirischen Beobachtung über die Datenaufzeichnung, deren Übersetzung in Matrizen und die Reorganisation der Datenreihen durch Algorithmen und schlussendlich deren Projektion in einen Wahrnehmungsraum (Netzwerkvisualisierung).
Um Informationen zu sammeln und Daten zu erheben, können verschiedene Arbeitstechniken und Methoden zum Einsatz kommen, die sich nicht von denen anderer Disziplinen unterscheiden. Wie bei anderen Sozialwissenschaften auch, steht die Beobachtung gewöhnlich am Beginn jeder Untersuchung. Die Datenaufzeichnung muss allerdings nicht nur Beobachtungsobjekte und deren Eigenschaften enthalten, sondern zwingend auch Informationen über die Beziehung zwischen den Objekten. Die systematische Erhebung der Beziehungsaspekte ist ein erstes Kennzeichen der Sozialen Netzwerkanalyse. Beispiele: A ist befreundet mit B, A spricht mit B, A und B tauschen Güter und Waren, A und B sind Aufsichtsräte eines spezifischen Unternehmens, Mitglieder in einem Verein. Diese Informationen sind deshalb notwendig, weil ein Netzwerk aus vielen tausenden solcher Grundelemente bestehen kann: Akteure und deren Beziehung oder Nicht-Beziehung. Akteurseigenschaften und Beziehungseigenschaften werden als zusätzliche Information verzeichnet.(4)
Visualisierungen können aufgrund veränderter Kommunikationsformen Wissen anders und vielfältiger kommunizieren als etwa der Text, die Schrift, die Rede.(5) Von Beginn an hat die Fähigkeit, grafische Karten zu produzieren, die Netzwerkanalyse mit den Intentionen der Bildpädagogik verbunden, die sozusagen auf Visualisierungen gesellschaftswissenschaftlichen Wissens beruhte. Die Bildpädagogik wurde von Otto Neurath entwickelt und popularisiert. Er war in seinen Interessen und Fähigkeiten vielfältig. Er schrieb über Entscheidungstheorie, über Kriegswirtschaft, über Spenglers Spekulationen zur Geschichte, über den Klassenkampf, über die Eisenbahnen am Balkan oder über Protokollsätze, Ethik und vieles mehr. Als zentrales Projekt betrieb er die Enzyklopädie der Einheitswissenschaft. Die Entwicklung einer Einheitswissenschaftssprache für die Wissenschaften korrespondiert der Entwicklung der Bildpädagogik, um wissenschaftliche Ergebnisse an eine breite Öffentlichkeit kommunizierbar zu machen. Die Öffnung des wissenschaftlichen Kreises erfolgt über das Bild und damit wird ein eigenes Programm eröffnet, mit dem wir bereits in die Epoche des Netzwerks eintreten.
„Ein Bild, das nach den Regeln der Wiener Methode hergestellt ist, zeigt auf den ersten Blick das Wichtigste am Gegenstand; offensichtliche Unterschiede müssen sofort ins Auge fallen. Auf den zweiten Blick sollte es möglich sein, die wichtigeren Einzelheiten zu sehen und auf den dritten Blick, was es an Einzelheiten sonst noch geben mag. Ein Bild, das beim vierten und fünften Blick noch weitere Informationen gibt, ist vom Standpunkt der Wiener Schule als pädagogisch ungeeignet zu verwerfen.“(6)
Abbildung: Beispiel einer Netzwerkdarstellung bei Otto Neurath aus dem Jahr 1933 (Gesammelte bildpädagogische Schriften, hg. v. Rudolf Haller u. Robin Kinross, Wien 1991, 375)
Visualisierung bedeutet, nicht nur bei Neurath, Kartierung, Mapping. Für die Wissenschaften sind Karten bedeutende Hilfsmittel zur Darstellung und Interpretation von Daten aus Messungen, Experimenten oder Computersimulationen. Die Aufgabe einer Karte besteht prinzipiell darin, Informationen jeglicher Art in eine Form zu transformieren, die eine verständliche, visuelle Kommunikation ermöglicht. Dabei macht die Karte von unseren Wahrnehmungs- und Kognitionsfähigkeiten Gebrauch, komplexe Zusammenhänge und große Datenmengen grafisch-visuell schneller und exakter erfassen zu können als es verbal oder mit Hilfe von Zahlenwerten möglich ist. Karten entstehen sozusagen zwischen Beobachtung und Beobachter. In Karten werden Evidenzen oder Besonderheiten dargestellt, die sich durch eine Gesetzesformel nicht ausdrücken lassen:
„Warum gibt es keine Karte der Planetenbewegungen? Weil ein universelles Gesetz ihre jeweilige Position voraussagt. Was sollten wir mit einer Karte, die voraussagbare Bewegungen und Positionen aufzeigt? Man braucht sie nur aus dem Gesetz abzuleiten. Dagegen bestimmt kein Gesetz den Verlauf eines Ufers, das Relief der Landschaften, den Plan unserer Geburtsstadt, das Profil der Nase oder die Linien des Fingerabdrucks … das sind Besonderheiten, Identitäten, Individuen, denen jedes Gesetz unendlich fern ist. Hier geht es um Existenz, sagten die Philosophen, und nicht um Vernunft.“(7)
Allerdings sind Karten in gewisser Weise subjektiv: „Karten sind wie Texte oder Bilder Repräsentationen von Wirklichkeit. Karten sprechen die Sprache ihrer Verfasser, und sie verschweigen das, wovon der Kartograph nicht spricht oder nicht sprechen kann. Karten sagen mehr als tausend Worte. Aber sie verschweigen auch mehr, als man in tausend Worten sagen könnte.“(8) Der Blick des Kartographen ist – wie der des Netzwerk-Visualisierers – konstruktiv und deskriptiv zugleich.
Die Vielfalt der Anwendungsgebiete von Karten macht es schwieriger, eine allgemeingültige Definition von Karten zu geben. Während frühere Beschreibungen eine Karte als zwei-dimensionale grafische Abstraktion bzw. Projektion eines Weltausschnittes definierten, d.h. Karten ausschließlich im geographischen Kontext betrachteten, verweisen neuere Arbeiten mehr auf den Aspekt der Karte als Instrument der visuellen Kommunikation und fassen den Rahmen dessen, was man als Karte bezeichnen kann, wesentlich weiter. Die Karte eröffnet eine Projektionsfläche, die Objekte nach Regeln ordnet und ihre Positionen zueinander bestimmt. Relation, Größe und Farbgebung stehen uns als zusätzliche Sprachdimensionen zur Verfügung, um präzisere Karten zu produzieren. Die Vielfältigkeit der Mediatisierung von Informationen verweist zunehmend auf die epistemologische Ebene der Konstruktion von Darstellungsräumen. The map is the territory! lautet die bekannte konstruktivistische Antwort(9) auf die Warnung The map is not the territory.(10)
Analog dazu herrschen auch bei der Frage einer begrifflich eindeutigen Bestimmung des Netzwerkbegriffs bislang Konfusion und konzeptive Ambiguität. Der Selbstverständlichkeit auf der phänomenalen Ebene steht eine ziemliche Unklarheit auf terminologischer Ebene gegenüber. Der Netzwerkbegriff teilt dieses mit einem ähnlich aufgeladenen Begriff wie dem der Struktur, mit dem er auch das Schicksal teilt, als „Epochenbegriff“ zu fungieren.(11) Diese Verbindung zwischen Netzwerk und Struktur wurde bereits von Radcliffe-Brown hergestellt. In einer Rede als Präsident der Royal Anthropological Society of Great Britain and Ireland postuliert er 1940 als Aufgabe der Sozialanthropologie das Studium der Gesellschaft, und nicht der Kultur. Soziale Phänomene ließen sich als Assoziationsbeziehungen zwischen Individuen definieren. In der Feldsituation beobachtet der Anthropologe das Verhalten von Menschen, nicht die Kultur.
„We do not observe a ‚culture‘, since that word denotes not any concrete reality, but an abstraction, and as it is commonly used a vague abstraction. But direct observation does reveal to us that these human beings are connected by a complex network of social relations. I use the term ‚social structure‘ to denote this network of actually existing relations.“(12)
Das Soziale stand tatsächlich am (kanonisierten) Ausgangspunkt der Netzwerkanalyse in Wien und Umgebung. Auf der Suche nach Zusammenhängen zwischen psychischem Wohlbefinden und sozialen Strukturen entdeckte Jacob L. Moreno jene Kräfte und Gesetzmäßigkeiten, aus denen er die Soziometrie entwickelte. Als Geburtsjahr der Soziometrie gilt das Jahr 1916. Moreno arbeitete seit 1915 als Betreuer für die hygienische Lage (seit 1917 als Arzt) im k.k. Barackenlager in Mitterndorf an der Fischa, südlich von Wien.(13) Zeitweise mehr als 10.000 italienischsprachige Österreicher/innen, vorwiegend alte Menschen, Frauen und Kinder aus dem Trentino und aus Istrien (Flüchtlinge, Deportierte, Evakuierte) waren hier interniert. Oberflächlich betrachtet, schien das Lager gut organisiert. Es gab Infrastruktur- und Gemeinschaftseinrichtungen, und um Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen, wurde eine Schuhfabrik für 2.000 Arbeiter in das Lager verlegt. Aber gerade dieser gut gemeinte Schritt führte zu erheblichen Spannungen. Die Leute aus der Schuhfabrik hielten sich für etwas Besseres als die bäuerlichen Flüchtlinge. „Eine weitere soziale Schicht wurde über die ursprünglichen Flüchtlinge gesetzt“, beobachtete Moreno.(14) Zunehmend interessierten ihn die wechselseitigen Gefühle und sozialen Spannungen zwischen Bauern und Arbeitern, Verwaltungspersonal und Lagerinsassen, Männern und Frauen. Diese Spannungen diagnostizierte er als Hauptquelle der Störungen im Lagerleben. Er bedauerte, dass soziale und psychologische Aspekte bei der Planung des Lagers nie in Erwägung gezogen wurden. Moreno schrieb einen Brief an das Innenministerium und schlug eine Neuordnung des Lagers mit Hilfe soziometrischer Methoden vor. Sein Vorhaben wurde von der Erfahrung getragen, dass „die Familien dazu neigten sich gegenseitig zu helfen, wenn die Leute mit denjenigen zusammenleben konnten, von denen sie sich auf positive Weise angezogen fühlten.“(15) Durch seine Bemühungen – er ließ Familien, die sich mochten, Nachbarschaften bilden – konnte die Zahl der Konflikte im Lager verringert werden. Seine Arbeit wurde von offizieller Seite zwar erlaubt, aber vor Ort auch immer wieder behindert. Moreno wanderte 1925 in die USA aus und konnte seine soziometrischen Arbeiten umfassend erst in den 1930er Jahren fortsetzen. Obwohl Moreno, wie er selbst sagt, in Mitterndorf eine sehr primitive Form der Soziometrie benutzte, enthält seine Arbeit in diesem Lager schon alle wesentlichen soziometrischen Grundhaltungen.
Anfang der 1930er Jahre entwickelte Jakob L. Moreno mit Unterstützung von H. H. Jennings ein soziometrisches Aufzeichnungssystem, das als wissenschaftshistorischer Vorläufer des Standardverfahrens der SNA gilt.(16) Die Soziometrie vermochte es vor allem, affektive Gruppenstrukturen von Personen aufzudecken. Mittel dazu war das Soziogramm, in dem die Mitglieder einer Gruppe als Punkte und die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen als Linien zwischen den Punkten dargestellt wurden. Dabei entwickelte Moreno auch für die Stellung der Personen in den Soziogrammen einfache Indizes.(17) Bereits in seinen frühen Arbeiten formulierte Jakob L. Moreno, so Linton Freeman, fünf wichtige regulative Ideen für die Bildkonstruktion von sozialen Netzwerken:
„Thus, in his early works, Moreno introduced five important ideas about the proper construction of images of social networks: (1) he drew graphs, (2) he drew directed graphs, (3) he used colors to draw multigraphs, (4) he varied the shapes of points to communicate characteristics of social actors, and (5) he showed that variations in the locations of points could be used to stress important structural features of the data.“(18)
Aber auch „Klassiker“ der deutschen Soziologie (zu denen Moreno nur bedingt, wenn überhaupt zu zählen ist) beschäftigten sich mit Netzen. Für Max Weber bezeichnet ‚Netz‘ bzw. ‚Vernetzung‘ vor allem die Diffusionsbewegung eines sozialen Ideals oder Standards, eines Lebensstils oder einer Norm, die sich ausbreitet oder Verbindungen aktualisiert, die vielfach auch als Kommunikationskanäle fungieren.(19) Georg Simmel betrachtete die Wechselwirkungen zwischen Individuen und den daraus entstehenden Dynamiken als Grundlage für den Aufbau und teilweise auch für den Antrieb zur Veränderung von Gesellschaft. Als informelle Struktur der Gesellschaft unterstützten sie den Austausch zwischen größeren Formationen wie Organisationen oder Milieus. Die Anzahl wie die Verschiedenartigkeit der „sozialen Kreise“, in denen eine Person eingebunden ist, sollten „Gradmesser der Kultur“ sein. Da sich die Einzelnen in unterschiedlichen sozialen Kreisen bewegten, würden sich auch heterogene Bereiche der Gesellschaft verbinden. Schwache Beziehungen (weak ties) seien, wie Simmel bemerkt, für die Überlappung „sozialer Kreise“ entscheidend.(20) Es geht also um folgende Fragen: Wie ist das Netzwerk differenziert? Wie knüpfen Akteure soziale Netze? Und wie prägt und verändert sie ihr Eingebundensein in ein Netzwerk? Ebenso lässt sich fragen, wie und auf welche Weise durch ein Netzwerk Ressourcen fließen. Netzwerke können auch eine soziale Infrastruktur darstellen, die aber zusätzliche Qualitäten, Funktionen oder Eigenschaften aufweist und deshalb für Soziologie und Geschichtswissenschaft von Interesse sind. Gleich der materiellen Infrastruktur und ihrer Netzwerke (Straßen und Verkehrseinrichtungen, Glasfaserleitungen, Energienetze, Flughäfen etc.) gelten heute die immateriellen (intangiblen) sozialen Netzwerke einer Gesellschaft als wesentliche Voraussetzungen für gesellschaftliche Entwicklung.
Trotz der langen Tradition der Netzwerkanalyse blieb ihre Entwicklung diskontinuierlich und ihre Situation in der Methodenlandschaft über längere Zeit hinweg randständig. Dies erklärt auch, warum sie immer wieder als „new science“ etikettiert werden konnte.(21)
Zurück zu den Aufzeichnungssystemen der Netzwerkanalysen. Eine vollständig selbstständige Notation wurde für die „world city network“-Forschung entworfen, die den Archipel der Weltstädte aufgrund ihrer geografischen Position auf Kartogrammen positioniert. 123 Städte werden als gleich große Knoten, die jeweils eine global city repräsentieren, platziert und nach dem Ausmaß der Konnektivität zueinander eingefärbt. Die World City Network-Forscher/innen gehen davon aus, dass die Position und das Akteurspotenzial der Städte erst durch die Prozesse, die das jeweilige Netzwerk erzeugen oder erneuern helfen, hergestellt werden. An diese Netzwerkkonsistenz erinnern Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus:
„Die Stadt ist das Korrelat der Straße. Die Stadt existiert nur im Hinblick auf Verkehr und Kreisläufe; sie ist ein bedeutender Punkt in den Kreisläufen, von denen sie geschaffen wird oder die sie schafft. Sie wird durch Ein- und Ausgänge bestimmt, es muss etwas in sie hineingehen und aus ihr herauskommen. […] Es handelt sich um ein Phänomen der Trans-Konsistenz, um ein Netz.“(22)
Besondere Aufmerksamkeit hat gerade auch im Zusammenhang mit dem world city network die Entdeckung des Power Law, des Potenzgesetzes (beruhend auf mathematischer Potenz) erregt; wie so oft handelte es sich um eine Wiederentdeckung. Das Potenzgesetz geht zurück auf George Kingsley Zipf, der 1949 eine breit angelegte Monographie dazu vorlegte.(23) Zipf konstatierte in ganz verschiedenen Domänen, dass sich der Rang eines Elements in einer geordneten Reihe von Elementen umgekehrt proportional zu seiner Größe verhält. Dieses Verhältnis lässt sich vereinfacht als y(Rang) ~ (Rang)–a beschreiben. Im Zusammenhang mit Netzwerken besagt das Power Law, dass Netzwerke durch sukzessives Wachstum entstehen und die Verteilung der Knotenwahlen dabei nicht gleich und nicht normal verteilt sei. Die breite Anwendbarkeit der Power Law-Modells auf alle möglichen Arten von Netzwerken (soziale, biologische, kulturelle etc.) insinuiert, dass es sich um universelle Struktureigenschaften emergenter, selbstorganisierender Netzwerke handelt. Die Welt ließe sich damit am besten als komplexes Netzwerk beschreiben, das folgendem Erzeugungs- und Bestandsgesetz folgt: Netzwerke erhalten sich durch ein Wachstum, das als Addition neuer Knoten beschreibbar ist; die neuen Vertices oder Netzwerkknoten verbinden sich präferenziell mit bereits gut- oder bestverbundenen. Dies produziert ein dynamisches Organisationsmodell, das Wachstum und Selektion verbindet. Das Prinzip, dass die Reichen immer reicher werden, nimmt sich in dieser Perspektive als eine natürliche Systemeigenschaft aus.(24) In gewisser Weise wäre damit eine universelle Dynamik gefunden, die für alle Wachstums- bzw. Entwicklungsprozesse für Netzwerke gelten sollte, ohne die mitunter sehr verschiedenen Mechanismen der Netzwerkbildung und die Beziehungsformen zu berücksichtigen. Das wird bereits deutlich, wenn man sich auf soziale Netzwerke konzentriert, die aus reziproken persönlichen Kontakten aufgebaut sind wie etwa Freundschaftsnetzwerke.
Werden – empirisch beobachtbare – Power Laws universalisiert, kann man mit Foucault auch von einem Dispositivwechsel sprechen, da sich dadurch der Modus der Normalisierung ändert: Vordem herrschte die Macht der Norm, die – operierend mit einer Binarisierung von Tauglichem und Untauglichem – eine möglichst große Anzahl von Individuen an ein Modell oder Ideal anzupassen und auszurichten versuchte. Bei Foucault heißt es: „(…) nicht das Normale und das Anormale sind grundlegend für die Normalisierung, sondern die Norm.“(25)
Wenn wir Power Laws nicht als Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft (für die es – seit Zipf – genau genommen keine verbindliche Erklärung gibt), sondern als Norm lesen, verändert sich sofort Kontext und Art der Analyse. Diese Art von Norm idealisiert die Ausnahme; die Voraussetzung für diese strategische Operation ist eine epistemologische Verschiebung, die den Gegenstandsbereich der Normierung, der Produktion von Modellen und Vorbildern neu ordnet und die Anwendung des Algorithmus Power Law grundlegend erweitert: Die Ökonomie der Ausnahme gilt nicht mehr nur für einen abgrenzbaren gesellschaftlichen Bereich mit spezifischer Rationalität, sondern sie unterwirft immer weitere Bereiche menschlicher Aktivität einer Ökonomie der Konkurrenz und lässt Selektionsprozesse, beispielsweise im Namen der „Exzellenz“, nach der Devise ‚up or out‘, immer wieder über eine immer kleiner werdende Population laufen.
***
Auch die Geschichtswissenschaften fühlen sich mittlerweile beim Thema Netzwerke und Netzwerkanalyse grundlegend und in mannigfaltiger Weise angesprochen, nach einer Phase einer längeren Latenz gewissermaßen, in der historische Arbeiten aus den Bereichen der Soziologie und Ökonomie geleistet wurden. Ein noch junger ‚Stamm‘ von Historiker/innen bewohnt erst seit kurzem die akademischen Territorien(26) einer neu definierten Historischen Netzwerkanalyse und profitiert in mehrfacher Weise von der Sozialen Netzwerkanalyse und von den Konzepten und Metaphern der Netzwerkforschung, da er hier neue Ressourcen und Perspektiven vorfindet, da die Bereitschaft zu methodischen Innovationen oder für die Aufnahme neuer Forschungsgegenstände vorhanden ist. Wir erleben aber nicht nur methodische oder technische Transformationen, sondern verzeichnen auch auf dem Feld der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte dramatische Erweiterungen des Gegenstandsfeldes. Und manchmal vermeinen wir geradezu die Geburt eines eigenen Universums von Termen, Konzepten, Instrumenten verbunden mit neuen Formen der Kommunikation und der visuellen Präsentation zu erleben.
Dieser Band der ÖZG versucht verschiedene Zugänge zu diesem Universum zu eröffnen und die Historische Netzwerkanalyse als eigentlich gar nicht so neue Ressource für Historiker/innen vorzustellen;(27) als Ressource deshalb, weil es sich nicht um einen „Streit der Fakultäten“ oder um oppositionelle Bewertungen von Denk- und Arbeitsweisen handelt, sondern um eine Erweiterung des Möglichkeitsraumes für Historiker/innen in allen Belangen des Forschungs- und Darstellungsprozesses. Geschichtswissenschaften, die lebendig sein möchten, sind ein Produkt verschiedenster Denktraditionen, methodischer Instrumente, paradigmatischer Wenden und Kreuzungen. Und sie sind vor allem dann erfolgreich, wenn sie dazu bereit sind, theoretische und methodische Innovationen auf adjazenten Wissenschaftsfeldern rasch adaptierend zu integrieren.(28)
Im Folgenden wird bereits das Ergebnis des fruchtbaren Austauschs und der Kooperation zwischen Netzwerkanalytiker/innen, Sozial- und Kulturtheoretiker/innen sowie Historiker/innen dokumentiert. Diese drei Gruppen ließen sich lange Zeit als konkurrierende Clans und isolierte Cliquen beschreiben, die der Tendenz nach voneinander durch strukturelle Wissensbegrenzungen getrennt waren, ihre je eigenen subkulturellen Stile besaßen und Diskurse führten, die als unübersetzbare Sinnprovinzen galten. Erst neuerdings ist der interdisziplinäre Austausch stärker geworden. Es wurden Konferenzen abgehalten, Diskussionsforen etabliert und interdisziplinäre Forschungsprojekte lanciert, welche die Begegnung zwischen der Geschichtswissenschaft und der Netzwerkanalyse auf eine neuartige und stabile Basis stellten.
Der vorliegende Band steht ganz in diesem Kontext. Er beginnt mit zwei einführenden Beiträgen (Lemercier, Odella) und demonstriert sodann Anwendungsfälle verschiedener netzwerkanalytischer Techniken. Der thematische Bogen ist dabei weit gespannt. Er reicht vom Handel mit Kunst- und Luxusgütern im 17. Jahrhundert (Hyden-Hanscho), bäuerlichen Gesellschaften vor und während der NS-Periode (Langthaler), Verfolgungsstrategien der Gestapo (Eumann/März), Kontinuitätsfragen in der Disziplin Agrarökonomie (Hirte) bis hin zu Elitenetzwerken im sozialistischen Ungarn auf der Basis von Jagdgewohnheiten (Bozsonyi, Horváth, Kmetty). Die Herausgeber danken Camilla R. Nielsen, Marianne Oppel und Marianne Ertl für ihre Unterstützung.
Albert Müller und Wolfgang Neurath/Wien
Anmerkungen
(1) University Archives der University of Illinois, Urbana, Heinz von Foerster papers, Correspondence, file Jane Kenner. Die alphabetische Liste der kreativen und außergewöhnlichen Personen lautete in Foersters Version übrigens folgendermaßen: Ashby, Beer, Bell, Billinger, Brand, Frankl, Fuller, Illich, Kinser, Lilly, Marurana, McCulloch, Mead, Papanek, Pask, Schlossberg, von Neumann, Wiener, Wiesenthal, Woods, Zagorski, Zuckmaier.
(2) Heinz von Foerster, Hg., Cybernetics of Cybernetics or the Control of Control and the Communication of Communication, Urbana 1974.
(3) Sebastian Gießmann, Netze und Netzwerke. Archäologie einer Kulturtechnik, 1740–1840. Bielefeld 2006.
(4) Wir folgen Wolfgang Neurath, Neue Perspektiven für die Geschichtswissenschaft durch Soziale Netzwerkanalyse (SNA), in: ÖZG 19/4 (2008), 140–153, hier: 142.
(5) Dazu exemplarisch: Karl H. Müller, Symbole Statistik Computer Design. Otto Neuraths Bildpädagogik im Computerzeitalter, Wien 1991.
(6) Otto Neurath, Gesammelte bildpädagogische Schriften, hg. v. Rudolf Haller u. Robin Kinross, Wien 1991, 257.
(7) Michel Serres, Atlas, Berlin 2004, 15.
(8) Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, 95.
(9) Heinz von Foerster, Der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen. Eine Selbst-Erschaffung in 7 Tagen, hg, v. Albert Müller u. Karl H. Müller, Wien 1997, 220.
(10) Alfred Korzybski, Science and Sanity. An Introduction to Non-Aristotelian Systems and General Semantics, 5th Ed., Brooklyn 1994, 750 (orig. 1931).
(11) Wolfgang Neurath/Lothar Krempel, Geschichtswissenschaft und Netzwerkanalyse: Potentiale und Beispiele, in: Berthold Unfried, Hg., Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert: Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen, Leipzig 2008, 59–79, hier: 71.
(12) Alfred R. Radcliffe-Brown, On Social Structure, in: The Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 70/1 (1940), 1–12, hier: 2.
(13) Vgl. Reinhard Müller, Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie, Innsbruck 2008, 105 ff.
(14) Jacob L. Moreno, Auszüge aus der Autobiographie, Köln 1995, 69.
(15) Ebd. 71.
(16) Vgl. Sebastian Gießmann, Ganz klein, ganz groß. Jacob Levy Moreno und die Geschicke des Netzwerkdiagramms, in: Ingo Köster/Kai Schuster, Kai, Medien in Zeit und Raum. Maßverhältnisse des Medialen, Bielefeld 2009, 267–292.
(17) Jacob Levy Moreno/Helen Hall Jennings, Statistics of social configurations, in: Sociometry 1 (1938), 342–374.
(18) Linton C. Freeman, Visualizing Social Networks, in: Journal of Social Structure 1/1 (2000) http://www.cmu.edu/joss/content/articles/volume1/Freeman.html
(19) Vgl. Max Weber, Gesammelte politische Schriften. hg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1988, 531; Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hg. von Marianne Weber, 2. Aufl., Tübingen 1988, 308.
(20) Georg Simmel, Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt am Main 1992, 456–511.
(21) Albert-László Barabási, Linked. The New Science of Networks, Cambridge, MA 2002. Gerade Barabási wurde vorgeworfen, er würde nicht nur die Tradition ignorieren, sondern sie gleich neu erfinden. Vgl. Christian Stegbauer „Die Invasion der Physiker“ – Naturwissenschat und Soziologie in der Netzwerkanalyse, in: Karl-Siegbert Rehberg, Hg., Die Natur der Gesellschaft Bd. 2, Frankfurt am Main 2008, 1060–077.
(22) Gilles Deleuze/Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 1992, 599.
(23) George Kingsley Zipf, Human Behavior and the Principle of Least Effort. An Introduction to Human Ecology, Cambridge MA 1949.
(24) So etwa Barabási, Linked, 79 ff.
(25) Michel Foucault, Geschichte der Gouvermentalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977–1978, Frankfurt am Main 2004, 90.
(26) Tony Becher/Paul Trowler, P. R. (2001). Academic Tribes and Territories. Intellectual Enquiry and the Cultures of Disciplines, 2nd Ed., Buckingham 2001.
(27) Unseres Wissens stammt der erste technische Hinweis auf die Soziale Netzwerkanalyse unter HistorikerInnen im deutschsprachigen Raum von Manfred Thaller. Dessen Programmpaket Kleio, das in den 1980er Jahren Furore machte, sah als eine der Möglichkeiten die Erfassung von Netzwerkrelationen zwischen Elementen von Datensätzen vor.
(28) Vgl. z. B. Albert Müller, Grenzen der Geschichte?, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 28/2 (2003), 6–20; ders., Zu den Methoden der Geschichtsforschung, in: Theo Hug, Hg., Wie kommt die Wissenschaft zu Wissen? Bd. 2, Baltmannsweiler 2001, 181–194.
Claire Lemercier
Formale Methoden der Netzwerkanalyse in den Geschichtswissenschaften: Warum und Wie?
Francesca Odella
A Network Perspective of Economic Relations and Markets
Veronika Hyden-Hanscho
Ego-Netzwerke zwischen Paris und Wien. Kulturvermittlung im 17. Jahrhundert am Fall Bergeret
Ernst Langthaler
In den Netzen des Entscheidens. Eine empirische Diffusionsstudie in theoretischer Absicht
Ulrich Eumann/Jascha März
Das Schneeballsystem der Gestapo bei der Bekämpfung des Widerstandes. Eine Kölner Fallstudie
Katrin Hirte
Würdigungs-Netzwerk, gewolltes Nichtwissen und Geschichtsschreibung
Károly Bozsonyi/Zsolt Horváth/Zoltán Kmetty
The Power Grid. The Social Network of the Hungarian Elite in the Socialist Era Based on Hunting Habits