Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 18. Jg., Heft 4, 2007

Zyklische Zeit

In den im April 1930 abgeschlossenen Philosophischen Betrachtungen macht Ludwig Wittgenstein folgenden Eintrag: »Es ist klar daß wir im Stande sind Zeiträume als gleich zu erkennen. Ich könnte mir z. B. die Vorgänge im Gesichtsraum begleitet denken vom Ticken eines Metronoms oder vom Aufblitzen eines Lichts in gleichen Zeitabständen.« Wittgenstein plädiert hier nicht nur dafür, »Zeit« als etwas Messbares anzusehen, sondern auch dafür, Zeiträume, Zeitabschnitte vergleichend und vergleichbar zu halten. Historiker weichen davon, wozu Wittgenstein sich im Stande sah, gewöhnlich ab. Sie behandeln Zeiträume – oder allgemein Zeit – nicht als gleich, sondern versehen sie mit Semantiken, mit unterschiedlichen Gewichten. Am Beginn der Geschichtsschreibung stand jedoch durchaus jene metronomartige Gelassenheit der Beschreibung von Handlungen und Geschehnissen im Zeitverlauf. Die sogenannten Frühlings- und Herbstannalen beschrieben über Jahrhunderte (722–481 v. u. Z.) hinweg in vollkommener zeitlicher Regelmäßigkeit den Verlauf von Geschehnissen in der chinesischen Gesellschaft. In diesem Punkt unterscheiden sie sich in erheblichem Maß von der europäischen, mittelalterlichen Tradition der Annalistik, die keineswegs einem Prinzip zeitlicher Regelmäßigkeit folgte, sondern lediglich »bedeutsame« Ereignisse (kriegerische Auseinandersetzungen, Herrscherwechsel, Naturereignisse usf.) aufzeichnete. Sie überliefern keine Informationen »Jahr für Jahr«, sondern – in unterschiedlichen zeitlichen Abständen – anlassbezogen »Bedeutsames«. So wie die frühe europäische Geschichtsschreibung agiert auch die moderne Geschichtswissenschaft. Sie beschäftigt sich mit (wie auch immer konstruierbar) Relevantem, nicht mit einer einem Prinzip der Gleichmäßigkeit folgenden Beschreibung von Ereignissen im Zeitverlauf. Während eine naheliegende Beschreibung der Geographie als zuständig für den (irdischen) »Raum« durchaus zutreffend sein mag, so wäre die ebenso naheliegende Beschreibung der Geschichtswissenschaften als zuständig für die »Zeit« empirisch sicher falsch.

Man kann Zeit nicht nur als physikalische Größe, sondern auch als eine – mit aller Vorsicht – »anthropologische Konstante« ansehen. Sie organisiert gleichsam das menschliche Leben durch Ereignisse (z. B. Geburt und Tod), durch Zyklen (Unterschiede der Licht- und Temperaturverhältnisse bei Tag und Nacht, Unterschiede
der Temperatur und Witterungsverhältnisse im Jahresverlauf in äquatorfernen Re-
gionen) und durch pfadabhängige Prozesse (weil Zustand(t–1), deshalb Zustand(t)). Diese Organisationsprinzipien sind durchgängig beobachtbar, und zwar nicht nur in unterschiedlichen Kulturen, auch wenn unterschiedliche kulturelle Praktiken ihnen Rechnung tragen, sondern auch für weitere »lebende Systeme« im Sinne von Maturana und Varela. Wir können – unter diesem Gesichtspunkt – von »natürlichen« Organisationsprinzipien sprechen. Eine Beschränkung der Zeiterfahrung auf den Menschen, wie G. J. Whitrow dies vorschlägt, ist daher wahrscheinlich zu kurz gegriffen. Whitrow meint, Tiere lebten nur in der Gegenwart.

Auch die Geschichtswissenschaften orientieren sich an diesen »natürlichen« Organisationsprinzipien. Auch sie behandeln:

• Zeitpunkt, als Ereignis, als Ursprung, als Endpunkt usf., (mit dem Problem des Zeitpunktes beschäftigte sich ÖZG 1999/3);

• Zeitpfeil, als gerichtete Zeit mit entropischen Prozessen, als pfadabhängiger, in der Zeit verlaufender Prozess (damit beschäftigte sich ÖZG 2002/3);

• Zyklische Zeit, im Hinblick auf das im großen wie im kleinen Maßstab Wiederkehrende (damit beschäftigt sich das vorliegende Heft).
Zusätzlich fügen sie eine ausschließlich kulturelle Dimension hinzu: sie behandeln

• Zeiträume als Epochen und Zeit als »Dauer« (damit könnten sich weitere Ausgaben dieser Zeitschrift beschäftigen).

Die Rede von der »ewigen Wiederkehr des Gleichen« (Nietzsche) regte – wohl ebenso wie Alltagserfahrungen – das Geschichtsdenken, die Konzeptionen der Geschichtswissenschaften an. Die empirische Einlösung erfolgte zuerst im Rahmen jener Wirtschaftsgeschichte, die sich von der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sich formierenden und stark anwachsenden Konjunkturforschung inspirieren ließ. Tatsächlich ließen sich unterschiedlich ausgedehnte Konjunkturzyklen (nach Kuznet, Kitchin, Juglar, Kontratjew) historisch-empirisch beschreiben, und es entstand auf diesem Weg eine allerdings begrenzte Möglichkeit, aus historischen und jeweils gegenwärtigen Daten für die Zukunft zu extrapolieren und Prognosen anzustellen.

Auf der Makro-Ebene einer allgemeinen Menschheits- bzw. Weltgeschichte war es vor allem Oswald Spengler, der in Der Untergang des Abendlandes so etwas wie eine Zyklen-Theorie der Kulturen entwarf. Spengler, der in den »zünftigen« Geschichtswissenschaften nie besonders geschätzt wurde, jedoch eine erhebliche Breitenwirkung entfaltete (Wittgenstein etwa meinte bekanntlich in den Vermischten Bemerkungen, Spengler habe ihn beeinflusst), arbeitet mit typischen Zyklenbildern und Zyklenmetaphern: Frühling, Sommer, Herbst und Winter einer Kultur, etwa oder Vorzeit, Kulturzeit und Zivilisation, wobei die Phase der Zivilisation jene vor dem »Untergang« einer Kultur darstellt.

Im Jahr 1929 notiert Wittgenstein: »Man kann natürlich sagen: ich sehe nicht die Vergangenheit sondern nur ein Bild der Vergangenheit.« Tatsächlich gilt dies nicht nur für den Erinnernden oder für die Rezipienten von Historiographie, sondern auch für die Geschichtswissenschaften selbst. Es bleibt ein andauerndes Thema, dass Historikerinnen und Historiker das Bild der Vergangenheit nicht bloß »sehen«, sondern zeichnen oder konstruieren und dass sie dabei Zeit prozessieren. Theodor Lessing hat unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges bereits nachdrücklich auf die Konstruktionsleistung von Historikern hingewiesen: »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen« und »Logificatio post eventum«, sind hier die beiden Schlagworte. Dies gilt auch dann, wenn sich die Geschichtswissenschaften ihres typischen Mix an empirischen Verfahren bedienen.

Dieses Heft der ÖZG versucht, in durchaus unterschiedlicher Weise der Frage nach den Vorstellungen von zyklischer Zeit nachzugehen. Eva Kernbauer untersucht die Zyklen-Metaphern in der Auseinandersetzung um Kunst und Kunstgeschichte vor allem im 18. Jahrhundert. Julia Casutt-Schneeberger untersucht Streiks in drei Ländern im Lichte der ökonomischen Konjunkturzyklen. Mit der Geschichte der Erforschung der ökonomischen Konjunkturen in Österreich beschäftigt sich Werner Reichmann, Markus Schweiger untersucht – angelehnt an den Ansatz der Laborstudien – in einer Fallstudie den Modus der Erstellung von Konjunkturprognosen. Karl H. Müller plädiert dagegen für eine Wende in der Untersuchung langer, mittlerer und kurzer Konjunkturzyklen mit Hilfe neuerer Varianten des Netzwerkparadigmas. Johanna Gehmacher schließlich greift ein in dieser Zeitschrift immer wieder behandeltes Thema unter neuen Gesichtspunkten auf: das Problem der österreichischen Identität.

Albert Müller (Wien)

Inhalte

Eva Kernbauer
Time goes by … so slowly: Zyklische Zeitmodelle zu Beginn
der Kunstgeschichte

Werner Reichmann
»Die Gezeiten der Wirtschaft«. Institutionalisierung und Methoden der Beobachtung wirtschaftlicher Zyklen in Österreich bis 1945

Markus Schweiger
Wie viel Qualität braucht die Quantität? Zur Erstellung der WIFO-Konjunkturprognose und der Bedeutung von ökonometrischen Modellen, Annahmen, Interpretationen und Diskussionsprozessen

Julia Casutt-Schneeberger
Der Einfluss des Konjunkturzyklus auf die Streikaktivität in Deutschland, Österreich und der Schweiz von 1901 bis 2004

Karl H. Müller
Fluktuationen in der Geschichte: Ein kurzer Abschied von den langen Wellen

Johanna Gehmacher
»Ein kollektiver Erziehungsroman« – Österreichische Identitätspolitik und die Lehren der Geschichte

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