Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 18. Jg., Heft 3, 2007

Liebe: Diskurse und Praktiken

Der auch am Beginn des 21. Jahrhunderts verbreitete Glaube an die romantische Liebe des Paares nimmt sich in sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive wie eine »moderne Nachreligion« aus, die eine Sinnlücke füllt.(1) Auch in den jüngeren und jüngsten Geschichten der Liebe lassen sich Elemente des Glaubens und des mythischen Denkens aufspüren, etwa der Glaube an die schicksalhafte Bestimmung der Liebe oder die Hoffnung, in der Liebesbeziehung Erlösung zu finden. Dennoch bleibt die romantische Liebe weder im Diskurs noch in den Praktiken der Moderne über mehr als zweihundert Jahre unverändert. Sie ist auch für Arme und Reiche und schon gar nicht für Männer und Frauen jemals die gleiche. Dass sie verschieden konstruiert, besprochen und gelebt wird, ist das Generalthema des vorliegenden Bandes, der aus einer Graduiertenkonferenz an der Universität Wien hervorgegangen ist.(2)

Die europäisch-nordamerikanische oder ›westliche‹ Moderne bildet bekanntlich über mehrere Jahrhunderte eine psychisch-kognitive und sozial-kulturelle Verfassung des Menschen als Individuum aus. Einen Höhepunkt findet dieser Prozess in der Aufklärung des 17. und des 18. Jahrhunderts. Menschen werden aufgerufen, ihre Zeit sorgsamer zu verwalten, sich selber und ihre Kinder zu fleißiger Arbeit zu erziehen, ihre Begierden und Sehnsüchte im Zaum zu halten und Ängste und Schuldgefühle zu bewältigen. Die verschiedenen Formen der christlichen Beichte sind ebenso Generatoren dieser Individualisierung wie die dann in der Epoche der romantischen Empfindsamkeit sich verbreitende Kultur der Briefe, Tagebücher und Memoiren. Literaten und Philosophen bilden eine Avantgarde der Individualisierung und ›beliefern‹ ihre Leserinnen und Leser mit ›Vorlagen‹ zur Selbst-Besichtigung, mit Modellen des Gelingens, der Konflikte und des Scheiterns individualisierter Lebensführung. Es entsteht eine neue Sprache der Innerlichkeit, die es möglich macht, romantische Gefühle der Liebe zu einem Anderen in sich selbst zu entdecken, auszudrücken und zu kommunizieren.

Die erstmalige Codierung romantischer Liebe in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts war – von heute aus betrachtet – der Beginn einer großen »Parallelaktion« (R. Musil) zur Durchsetzung zweckrationalen Denkens und wirtschaftlichen Handelns: Jene Sehnsüchte, Hoffnungen und Begierden, die in der Welt der Arbeit, der Geschäfte, der Verwaltung und des Wissens stören und nicht zu befriedigen sind, werden auf die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau, bald auch auf Ehe und Elternschaft projiziert. In ihren ersten diskursiven Fassungen tritt romantische Liebe in eine geradezu rebellische Haltung gegenüber den Geschäften des Handelskapitalismus und des frühen industriellen Kapitalismus. Im Namen der Liebe klagen Literaten, das profitable Geschäft sei das herrschende Prinzip des Lebens geworden. Im Namen der Liebe werden Duelle ausgefochten, Selbstmorde begangen und bürgerliche Existenzen ruiniert. Der frühromantische Liebes-Diskurs produziert einen rebellischen Überschuss, der zwar das gesellschaftliche System nicht gefährden kann, aber doch kanalisiert werden muss, um dem System weiter nützlich zu bleiben. Kantianische Vernunft und schöne Literatur, Ärzte und Psychiater, christliche Seelsorge, Psychotherapeuten und populäre Ratgeber bemühen sich seit mehr als zwei Jahrhunderten darum.

Die wahrscheinlich wirksamste Konsumtion von romantischen Liebesgefühlen findet im 19. und 20. Jahrhundert im Institut der patriarchalen Familie statt. Liebesgefühle dienen hier der Herstellung von Humankapital, vorwiegend durch die liebevollen Dienstleistungen der Frauen an Männern und Kindern. Statt die Liebe weiterhin als anarchische Leidenschaft zu rühmen, werden dem bürgerlichen Mann Ruhe und Entspannung zu Hause und seiner Frau beglückende Beziehungsarbeit versprochen. Immer deutlicher separieren und spezialisieren sich zwei Arbeits- und Lebenswelten: In der Arbeits- und Berufswelt regieren ökonomisches Kalkül, Sachlichkeit, Technik und Wissen. Das Heim ist ihre parallele Gegenwelt: Hier wird die Arbeitskraft ›in Liebe‹ geschaffen und wiederhergestellt. Von Anfang an stehen romantische Liebe als Diskurs und Praxis einerseits und kapitalistische Rationalität andererseits in einem dialektischen Zusammenhang: Sie opponieren einander, bedingen einander und bringen einander hervor.

Der Liebes-Diskurs durchdringt alles Denken, Deuten und Interpretieren, aber er beherrscht und bestimmt das Handeln nicht vollends. Die Akteure scheitern mehr oder minder häufig dabei, die Codes so erfolgreich einzusetzen, wie es der Diskurs vorsieht. Nicht zuletzt leiden sie, die in praktischen Fragen des Lebens Eindeutigkeit und Klarheit suchen, an der Mehrdeutigkeit (Polysemie) jeder Rede, jedes Wortes und jedes Symbols. Der hegemoniale Diskurs über die Liebe erspart es ihnen nicht, alle für ihre Intimbeziehungen relevanten Entscheidungen selber zu treffen. Wenn sie über ihre Gefühle, Phantasien und Intimbeziehungen erzählen, kommen sie zwangsläufig darauf zu sprechen, in welchem Maß und in welcher Hinsicht sie von Maximen, die der hegemoniale Diskurs transportiert, abweichen und wie dies begründet und eventuell sogar legitimiert werden kann. Am Verhältnis von Liebe, Sexualität und Ehe ist die Differenz zwischen dem hegemonialen Diskurs und der alltäglichen Praxis gut zu erläutern. Christa Putz untersucht den medizinwissenschaftlichen Diskurs des späten 19. Jahrhunderts. Er schafft – seinerseits am literarischen Diskurs über romantische Liebe orientiert – ein normatives Konzept: (Hetero-)Sexuelle Praktiken haben lustvoll zu sein. Folglich hat – das Konzept der Liebesehe vorausgesetzt – auch die sexuelle Beziehung der Ehegatten lustvoll zu sein. Da jedoch viele Ehepaare diese Forderung nicht oder nicht mehr erfüllen, sprechen Ärzte und Psychotherapeuten am Ende des 19. Jahrhunderts von ihnen als pathologischen Fällen.

Nicht nur der Diskurs der medizinischen Wissenschaften verfängt sich immer wieder in seiner eigenen Normalitätskonstruktion. Auch Philosophie, Soziologie, Literaturwissenschaft und andere Humanwissenschaften konstruieren Normalität. Birgit Wagner geht in ihrem Essay zunächst an den Anfang des abendländischen Liebes-Diskurses. Plato stellt die Frage, von wem die Rede ist, wenn von Liebenden geredet wird, und unterscheidet zwei Sprecherpositionen: die des Liebenden und die des Geliebten. Während der moderne Liebes-Diskurs ein liebendes Paar und somit Paarliebe als Norm unterstellt, scheint es den Eliten der Athener Stadtkultur genug, wenn Geliebter und Liebender ihre temporär gültigen Positionen ausfüllen. Wagner vergleicht danach zwei höchst verschiedene Werke des späten 20. Jahrhunderts und zeigt, dass auch der rezente humanwissenschaftliche Diskurs höchst verschiedene Perspektiven einnimmt. Niklas Luhmanns Liebe als Passion geht von der Liebe des Paares aus, ohne die Positionen und Interessen des Liebenden und des Geliebten, auch ohne Mann und Frau hinreichend zu differenzieren. Roland Barthes hingegen bietet Fragmente der radikal subjektiven Erfahrung eines (männlichen) Liebenden.

Die romantische Literatur etabliert heterosexuelle Liebe als eine Naturgewalt, der sich Männer und Frauen auch gegen ihren Willen unterworfen finden. Dass sie Entdeckungen und Experimente der Naturwissenschaften benützt, um Denk-Modelle von der Natur der Liebe zu gewinnen, zeigt Rupert Gaderer. Der romantische Schriftsteller E. T. A. Hoffmann rezipierte aufmerksam das zeitgenössische Wissen über Elektrizität, über elektrische Körper und die Beziehung zwischen Elektrizität und Mesmerismus um 1800. In experimentellen Versuchsanordnungen der zeitgenössischen Naturwissenschaftler wird der weibliche Körper die energetische Quelle elektrischer Stimulationen, der männliche Körper hingegen der elektrisierte Empfänger. Das ›elektrische‹ Liebeskonzept widerspricht dem bürgerlichen Eheleben, das im Namen von Kapitalakkumulation, Vererbung und wirtschaftlicher Vernunft geführt wird; es widerspricht auch der Vorstellung von Liebe als Freundschaft. Liebe erscheint hier als eine natürliche Kraft. Sie erwächst aus erotischer Begierde und herrscht über den Einzelnen, sie wird sein Schicksal.

Nach gängiger Auffassung emanzipiert sich die Partnerwahl in westlichen Gesellschaften erst im Lauf des 20. Jahrhunderts fast vollständig von elterlichen und dynastischen Strategien. Die von der schönen Literatur des 19. Jahrhunderts scharf gezeichnete Opposition von elterlichem Willen und freier Liebeswahl steht jedoch in Frage, wie Sebastian Susteck zeigt. Obwohl die romantische Literatur arrangierte Ehen für eine Ausgeburt besitz- und standesrechtlichen Handelns hielt, arrangierte auch das Bürgertum des 19. Jahrhunderts die Ehen seiner Kinder, »sodass sich die soziale Praxis im Rücken des eigenen Anspruchs befand«. Einmal mehr erweist sich, dass Diskurs und Praxis einander bedingen, aber die Praxis dem Diskurs nicht wortgetreu folgt. Wird dem Diskurs im Sinne Foucaults eine relative Autonomie von den ›wirklichen Verhältnissen‹ zugestanden, gilt dies auch für die Praxis gegenüber dem Diskurs. Die Handelnden haben gute (z. B. wirtschaftliche oder ideologische) Gründe, gegen Maximen, die der Diskurs nahe legt, zu handeln. Eventuell verfügen sie auch über die Macht und die Mittel, einen wirksamen Gegendiskurs zu installieren. Kennen vor allem der philosophische und der religiöse Diskurs strenge Dichotomien, ist die Praxis eher von Kompromissen bestimmt. So etwa von dem typischen Kompromiss bürgerlicher Eltern, ihrem Kind die Wahl des Ehepartners zu überlassen, jedoch die in Frage kommenden Partner durch soziale Filter von den Mesalliancen zu unterscheiden. Hegel und Schopenhauer verteidigen indirekte und direkte Einflussnahmen von Eltern auf die Partnerwahl ihrer Kinder als »sittlich« (als sozial vernünftig) und kritisieren das anarchische Konzept der freien romantischen Liebe. Die Literaten des 19. Jahrhunderts hingegen feiern, auf den ersten Blick, den Triumph der romantischen Liebe. Genauer besehen hegen sie aber – in ihren Erzählungen an eigene Erfahrungen und an die Kenntnis empirischer Fälle gebunden – erhebliche Zweifel an der Liebe als Fundament von Ehe und Lebenspartnerschaft. Was sie bis ins 21. Jahrhundert weitaus öfter und überzeugender erzählen als das Glück der Liebe, sind der Liebeskonflikt und das Scheitern der Liebesbeziehung in der Ehe.

Bei aller Verschiedenheit der fachwissenschaftlichen Zugänge herrscht in den rezenten Kulturwissenschaften offenbar Übereinstimmung, dass die Verbindung von zwei Menschen zu einem sich als dauerhaft entwerfenden Paar mittels narrativer und körperlicher Strategien der Symbolisierung hergestellt, aufrechterhalten und aufgelöst wird. Dazu zählen im einzelnen die Strategien der Selbstpräsentation und der Partnersuche, der Bindung, der Reproduktion der Intimbindung (how to keep love alive), der abrupten oder schleichenden, symmetrischen oder asymmetrischen Entliebung, der Ablösung eines Partners vom anderen oder auch beider Partner voneinander und der sozial-ökonomischen Trennung der Partner, auf die eine nächste Paarbildung folgen kann. Der Umstand, dass die Handelnden dazu neben körperlichen vornehmlich narrative Strategien einsetzen, verschafft den Diskursen der Wissenschaften, Künste und Religionen Zutritt zum praktischen Leben. Sie werden in den Narrativen der Handelnden selektiv und fragmentarisch, vereinfachend oder entstellend zitiert, subjektiv interpretiert und je nach persönlichen Interessen und Kompetenzen strategisch als ›Argumente‹ für eine Bindung, ein Durchhalten in der Beziehung oder eine Trennung verwendet. Dieses handlungs- und narrationslogische Modell hier nur in aller Kürze vorausgesetzt,3 erscheint der Liebes-Diskurs wie ein Lieferant der Praktiker: Er liefert Erfahrungen in Geschichten und damit auch die Semantik und die Symbole der Liebe. Dass aber auch ihr kompetenter Gebrauch nicht die gewünschte Sicherheit über die eigene Liebe und noch weniger über die Gegenliebe des Geliebten schaffen kann, weiß schon der alte Kinderreim: »Er / Sie liebt mich, er / sie liebt mich nicht …«

Wollen wir den Wirkungszusammenhang und die Differenz von Diskurs und Praxis genauer verstehen, ist ohne eine Theorie des Handelns, genauer: des sozialen und symbolischen Handelns, nicht auszukommen. Zunächst ist ja nur so viel klar: Entwurf und Vorstellung einer Liebe sind nicht deren Wirklichkeit, so wenig wie die Skizze des Architekten schon das Haus ist. Wie aber gelangen die Subjekte von ihren diskursiv bestimmten Denkmöglichkeiten und von ihren Sehnsüchten zur praktischen Ausführung (Performanz) einer Liebesbeziehung? Sie erzählen sich selbst und ihr Verhältnis zu ausgewählten Anderen. Dabei zitieren sie aus den ihnen verfügbaren und passend erscheinenden Diskursen der Liebe: schwärmerisch und eloquent wie der Adelige bei Hof, zaghaft und unsicher wie das Dienstmädchen, ernsthaft und romantisch wie der Bürgersohn, ironisch und skeptisch wie die Business-Dame, um die synchrone und die historische Vielfalt nur anzudeuten. Und wenn sie ihre Liebesbeziehung später trennen, rechtfertigen sie ihre Entscheidung vor sich selbst und vor anderen, indem sie die Geschichte des Verlustes dieser Liebe auf ihre Weise erzählen.

Das autobiografische Erzählen ist also ein für die Lebenspraxis wegweisendes Handeln mit Sätzen. Die Subjekte handeln nach ihren Erzählungen und verfehlen sie doch mehr oder minder. Sie erzählen eine Liebe herbei, und häufig erzählen sie diese Liebe früher oder später auch wieder weg. Dass sie dabei etablierte und erprobte Denk-Modelle benutzen, um die Veränderung der Beziehung wie auch die Veränderung der eigenen Person plausibel zu machen, führt uns Alexandra Kofler vor Augen. An einer mündlich gegebenen autobiografischen Erzählung zeigt sie die Gestaltung von ›Liebe‹ in mehreren, sukzessiven Intimbeziehungen einer Frau und entdeckt darin die literarische Figur der Konversion. Diese ist allerdings mehr als eine ästhetisch-rhetorische Figur. Sie hat auch eine spezifische Funktion im Lebensprozess, indem sie nicht nur die retrospektive Interpretation des schon Erlebten, sondern auch den Entwurf des künftigen Lebens mit handfesten praktischen Folgen ›organisiert‹. Das Modell der Konversion erfordert es geradezu, eine Liebe aktiv abzuwerten, ja sie sogar zu nichten, um dem eigenen Leben die ›entscheidende‹ Wendung zu einer nächsten, besseren Liebesbeziehung oder zu einer deutlich anders gestalteten Beziehung geben zu können. Die Initiatoren der Trennung entwickeln narrative und körperliche Strategien, den Partner abzuwerten, zu entidealisieren, manchmal sogar zu dämonisieren, um sich im Namen einer nächsten Liebe trennen zu können. Geschichten, die sie mit dem Partner eine Zeit lang verbunden haben, erzählen sie derart um, dass die psycho-somatische Ablösung und die sozial-ökonomische Trennung möglich und legitim erscheinen. Auch dabei sind ihnen Fragmente diverser zeitgenössischer Diskurse (etwa der Psychologie, der Frauenbewegung etc.) nützlich. Immer weniger können Frauen und Männer darauf vertrauen, dass das, was sie nach wie vor als ›Liebe‹ codieren, zu einem dauerhaften Zusammenleben führen wird. Romantische Codes werden zwar weiter benützt, erhalten aber doch eine andere Geltung in Lebensplanung und Lebensführung. Der Einzelne kompiliert den Entwurf einer Liebesbeziehung nach seinen Möglichkeiten und Neigungen aus den diskursiv angebotenen Motiven verschiedener Zeiten und Milieus (bricolage).

Einer der vielen Orte, an denen auf diese Weise ›gebastelt‹ wird, ist die Pop-Musik. Angelika Baier untersucht, wie Frauen im Rap, einer Stilrichtung des HipHop mit Wurzeln in oralen Traditionen Afrikas, über die Liebe und über Liebesbeziehungen sprechen. Die Autorin zeigt, dass auch hier die Idee der ›romantischen Liebe‹ ungebrochen ist, die Idee also, dass es den einen, wahren Partner gibt, der den Geliebten in seiner Einzigartigkeit und Eigenart voll und ganz zu begreifen vermag. Die Texte reproduzieren und affirmieren eine patriarchale ›Heteronormalität‹, nur selten wird sie ironisch gebrochen.

Wenn romantische Liebe weiterhin geheiligt wird, bedeutet das freilich nicht, dass sie in genau derselben Weise angestrebt, erlebt und verfehlt wird wie vor zweihundert, hundertfünfzig oder fünfzig Jahren. Seit wenigen Jahrzehnten wird sie von patriarchalen und heterosexuellen Normalitäts-Konstruktionen entlastet. Ihre normative Bindung an das heterosexuelle Paar, an das verheiratete Paar und an das dauerhaft unter einem Dach zusammenlebende Paar schwächt sich deutlich ab. Nichteheliche Lebensgemeinschaften werden in den meisten westlichen Gesellschaften ohne weiteres akzeptiert. Paare ohne gemeinsamen Haushalt stellen den Mythos vom Leben unter einem gemeinsamen Dach in Frage. Intime Beziehungen neben einer Ehe oder einer offiziellen Beziehung sind keine gefährlichen Ausnahmen mehr, die das Leben oder die soziale Existenz zerstören. Gleichgeschlechtliche Paare präsentieren sich offener und selbstbewusster. Dort wie da ist ›die Liebe‹ nicht nur ein Zaubertrank auf dem Weg in Ehe, Familie und Häuslichkeit; sie ist beinahe ihr eigener Zweck. Auch wenn das Liebes-Paar keine Kinder hat, keine haben will, oder – wie das homosexuelle Paar – keine leiblichen Kinder haben kann, wird es als legitim anerkannt. Paare und Ehen werden im Namen der Liebe eines sich neu bildenden Paares getrennt und gerichtlich geschieden, und so fort. Kurz und pointiert: Liebesbeziehungen werden ihrer Häufigkeit nach multipliziert und in ihrer Qualität pluralisiert. Die (romantische) Liebe ist nicht mehr auf einen einzigen, vermeintlich natürlichen Modus festgelegt. Spätestens Mitte der 1970er Jahre erhebt sie sich aus dem »großen knarrenden Doppelbett« (Ingmar Bergman, Szenen einer Ehe, 1975), wo es ihr ohnehin nicht allzu gut ging, und findet andere, weniger schwer gezimmerte Betten. So wird sie seither auch eher erkennbar als das, was sie immer war: das Begehren, in der nächsten Nähe eines Anderen erregt und geborgen zu sein. Dass sexuelles Begehren nicht nur bindet, sondern auch die Tendenz hat, soziale Bindungen zu sprengen und das disziplinierte Subjekt existenziell herauszufordern, diskutiert Sophie Wennerscheid an George Batailles Konzept erotischer Grenzüberschreitung.

Eine jüngste Veränderung in Diskurs und Praxis der Liebe sei wenigstens noch kurz angesprochen. In psychologischen und psychotherapeutischen Sachbüchern wird längst nicht mehr über die Liebe als eine kurze Episode der Jungen geredet. Sie stellen ›Liebe‹ vielmehr als ein dynamisches Geschehen dar, das nicht von Zufall und Schicksal bestimmt wird, sondern das Mann und Frau in allen Lebensaltern selber gestalten. Erst im Lauf des Lebens und durch fortgesetzte Arbeit an sich selbst könnten sie die Fähigkeit zu lieben erwerben, ohne den Geliebten ganz und allein besitzen zu wollen, ohne sich selbst und die eigenen Interessen für ihn aufzugeben, auch ohne zu erwarten, der Geliebte könnte einem allen Schmerz und die Einsamkeit nehmen. Dieser rezente liebestherapeutische Diskurs schlägt also vor, wesentliche Elemente des romantischen Liebesmodells zu verabschieden. In der eingangs gewählten langen Perspektive wäre das freilich nicht das Ende, sondern der vorläufige Höhepunkt im Prozess der Individualisierung von Liebe.

Eines der vielen Hindernisse, die diesem liebestherapeutischen Ziel jedoch entgegenstehen, ist, dass Liebe, Sexualität und Körper zu Dienstleistungen resp. konsumierbaren Gütern geworden sind, an denen Erfolg und Prestige der Konsum-Produzenten hängen. Die ihnen abverlangte Flexibilität und Bereitschaft, ihre Arbeits- und Lebensweise wiederholt und umgehend zu optimieren, weitet sich auf das Intim- und Beziehungsleben aus und fordert auch hier rasche Entscheidungen. Weil infolge seiner doppelten Kontingenz niemand wissen kann, wie sich das Zusammenspiel der Liebes-Partner künftig gestalten wird, antizipieren diese die Möglichkeit ihrer Trennung schon im Augenblick der Bindung. Mit der faktischen Häufung der Trennungen und ihrer Erwartbarkeit wächst aber auch die Angst sich zu verlieben und vom / von der Geliebten verletzt zu werden. Diese Angst ist nicht neu. Neu aber ist die drastisch erhöhte Möglichkeit, dem Anderen zuvorzukommen und die Trennung selbst zu initiieren. Der drohende Autonomieverlust scheint inzwischen schwerer zu wiegen als der Partnerverlust, den man ja durch eine neue, bessere Liebesbeziehung zu kompensieren meint.

Und zuletzt: Woher kommt die auch bei sequenzieller Polygamie nicht aufgegebene Hoffnung, das Glück des Menschen liege schlechthin in der Liebe zu einem einzigen geliebten anderen? Sind ihre ›Ursprünge‹ dort, wo die Sozial- und Kulturwissenschaften nach allgemeiner Auffassung nicht mehr zuständig sind – im Bereich der Natur? Etwa in einer verhaltensbiologischen Gesetzmäßigkeit, die dem Menschen aufgibt, sich in Liebe optimal zu entwickeln?(4) Ist die Sehnsucht nach dieser einzigen Liebe also ein notwendiger, natürlicher Motor für die Entfaltung des Menschenlebens? Oder liegen ihre Anfänge – wie die Psychoanalyse meint – in der Geborgenheit des Mutterleibes und dann in jener Liebeserfahrung des kleinen Kindes, die ihm eine erste große Enttäuschung bereitet? Besteht die Sehnsucht nach Liebe bis ans Lebensende fort, weil sie immer wieder enttäuscht wird? Folgen wir der semiotischen Triade Lacans vom Realen, Symbolischen und Imaginären, dann wäre sie eine Kraft des Imaginären, die – mit den Mitteln der Sprache und des Körpers symbolisiert – alles Reale durchdringt.

Reinhard Sieder (Wien)

Anmerkungen

(1) Ulrich Beck u. Elisabeth Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt am Main 1990.
(2) Die Graduierten-Konferenz Kulturen der Liebe. Codes, Diskurse, Visualisierungen, Praktiken und Erfahrungen im historischen und interkulturellen Vergleich fand am 4., 5. und 6. Mai 2006 im Marietta Blau-Saal der Universität Wien statt. Sie wurde von der Arbeitsgruppe Kulturwissenschaften/Cultural Studies an der Universität Wien veranstaltet. Die wissenschaftliche Leitung hatten Prof. Dr. Daniela Hammer-Tugendhat (Universität für Angewandte Kunst in Wien), Prof. Dr. Franz X. Eder und Prof. Dr. Reinhard Sieder (Universität Wien). Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen aus verschiedenen Fachwissenschaften (Geschichtswissenschaften, Literaturwissenschaften, Filmwissenschaften, Soziologie, Philosophie). Die Organisation der Tagung besorgte Mag. Sonya Balti. Finanziert wurde die Konferenz vom österreichischen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kunst.
(3) Eine Erläuterung und empirische Anwendung des Modells der narrativen und körperlichen Strategien der Bindung und Trennung von Paaren findet sich bei Reinhard Sieder, Patchworks. Das Familienleben getrennter Eltern und ihrer Kinder, Stuttgart 2008.
(4) Diese Auffassung vertritt beispielsweise der bekannte Schweizer Paartherapeut Jürg Willi, Die Sehnsucht nach der absoluten Liebe, in: ders. u. Bernhard Limacher, Hg., Wenn die Liebe schwindet. Möglichkeiten und Grenzen der Paartherapie, Stuttgart 2005, 15 ff.

Inhalte

Birgit Wagner
Liebe allein oder zu zweit? Fragmente einer europäischen
Diskursgeschichte

Alexandra Kofler
Liebe und Konversion. Narrative Identität in biografischen Erzählungen

Rupert Gaderer
Liebe im Zeitalter der Elektrizität. E. T. A. Hoffmanns homines electrificati

Sebastian Susteck
Kinderwille, Elternwille. Arrangiertes Eheglück bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Arthur Schopenhauer, in der Sozialgeschichte und Literatur des 19. Jahrhunderts

Christa Putz
Eheliches Glück und Störungen der sexuellen Genussfähigkeit in Medizin und Psychoanalyse 1890-1920

Angelika Baier
»Mach mich ganz«?! – Der Einfluss des Diskurses der Liebe auf die Subjekt- und Identitätskonstitution von Frauen im deutschsprachigen Rap

Sophie Wennerscheid
›Kommunikation unter Verwundeten‹. Zu George Batailles Konzept und Kultur der Überschreitung

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