Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 8. Jg., Heft 4, 1997

Film Geschichten

Die Zeit läßt den Schein ihrer Laterna magica über die Körper hingleiten, schrieb Marcel Proust in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und zeichnete mit dieser Metapher das Wesen des "klassischen" Erzählkinos: Während seines Ablaufes ist uns ein Film gegenwärtig wie kein anderes Medium, nur durch den fortwährenden Entzug der Bilder kann der Effekt des Fiktionalen oder auch der Effekt des Authentischen greifen. Das Lautbild ist als solches nicht faßbar – vermutlich einer der wesentlichen Gründe, warum so viele Historiker/innen gegenüber dem Film als Forschungsgegenstand skeptisch bleiben. Dieses Heft geht weniger vom Problem des Films ,als Quelle‘, denn von den Gemeinsamkeiten zwischen Film und Historiographie aus. Die zeitliche Transformation von Phänomenen prägt – auf je unterschiedliche Weise – beide Äußerungsformen. Geschichte bildet sich im Film nicht einfach ab, sondern wird – ebenso wie durch die Historiographie – konstruiert. Widersprüche regieren beide Textsysteme (das kinematographische und das historiographische), beide werden von jeweils spezifischen diskursiven Mechanismen bestimmt.

Will man das weite Feld "Film und Geschichte" skizzieren, so muß zunächst zwischen der Geschichte, die durch hundert Jahre Kino geschrieben wurde, also der Filmgeschichte im engeren Sinne, und der Repräsentation von Historie im Film unterschieden werden. Letztere fand traditionell bei Historiker/inne/n das meiste Interesse, wobei diese sich für Film lange Zeit bloß als Quelle (deshalb das überwiegende Interesse für Dokumentarfilme und Wochenschauen) oder allenfalls für Historienfilme in bezug auf deren Geschichtsdarstellung interessierten. Die Frage, inwiefern Film immer auch etwas über die Zeit, in der er entstanden ist, aussagt – einerseits über die visuelle Repräsentation von Körpern, Kleidern, Ausstattung und ähnliches mehr, andererseits auch in bezug auf kulturelle, politische oder ökonomische Kontexte und Praktiken -, fand im deutschsprachigen Raum bisher wenig Resonanz.

Geht es um Geschichte und Film, so wurde dieser Forschungsbereich lange Zeit, zumindest im angelsächsischen und deutschsprachigen Raum, von Fragen nach dem Zuschnitt "das Bild von … in diesem oder jenem nationalen Kino" beherrscht, die sich jedenfalls ganz auf den expliziten Inhalt eines Films konzentrierten.

Besonders im französischen Sprachraum gibt es seit mehr als zwei Jahrzehnten eine dem inhaltsorientierten Ansatz geradezu entgegengesetzte semiologische Position, die sich, von Methoden der Linguistik und Literaturwissenschaft inspiriert, vor allem für das Wie einer Bedeutungskonstruktion interessiert. Richtungweisend für darüber hinausgehende soziokulturelle Ansätze waren etwa die Arbeiten von Pierre Sorlin oder in Amerika von Dana Polan, der eine spezifisch ideologische Funktion der Erzählung Hollywoodscher Prägung analysierte. Mit größeren filmischen Corpora beschäftigt sich seit langem auch Marc Ferro, um signifikante Probleme einer Zeit empirisch ablesbar zu machen. Wie der Aufsatz von MichèIe Lagny in diesem Heft zeigt, hat sich jedenfalls aus historischer Perspektive die bloß textimmanente Filmanalyse zugunsten von filmhistorisch verankerten, kontextuellen und intertextuellen Verfahren überlebt.

Auch die Filmhistoriographie, die ein verwandtes Forschungsfeld darstellt, hat sich methodisch und methodologisch differenziert. Wie im vorliegenden Interview mit Thomas Elsaesser deutlich wird, ist die sogenannte New Film History als Zeichen einer Neuorientierung zu verstehen, die zunächst aus Mankos der ,alten‘ Filmgeschichtsschreibung erwachsen ist. Deren Ansätze lassen sich im großen und ganzen in verschiedene Bereiche trennen: Geschichte der Repräsentationsformen, ästhetische Geschichte, institutionelle Geschichte und Wirtschaftsgeschichte, Technikgeschichte, Mediengeschichte, Sozial- und Kulturgeschichte.

In diesem Heft werden verschiedene Ansätze vorgestellt, die das Problem der Geschichtsdarstellung im Film verdeutlichen, aber auch, darüber hinausgehend, Fragen der Filmhistoriographie mit denen der Historiographie verbinden. Neben der semiohistorischen findet sich eine an ästhetischer und formaler Geschichte orientierte Analyse, die Repräsentationsformen des Biographischen diskutiert; neben einer kulturgeschichtlichen Studie amerikanischer Prägung findet sich eine filmtheoretisch orientierte Arbeit, die am Problem der zeitlichen Repräsentation historische Spezifik zu berücksichtigen versucht.

Der von MichèIe Lagny vertretene Standpunkt einer Semio-Historie wird dadurch realisiert, daß die Analyse der filmischen Ausdrucksmodi, die Untersuchung der Dokumente, die über die Produktion, die Verfertigung und die Rezeption des Films Aufschluß geben, und diejenige des kulturellen Intertexts zusammengeschlossen werden. Lagny plädiert für einen Ansatz, der filmgeschichtliche und filmanalytische Zugänge vereint. Dabei werden insbesondere die Entstehungsgeschichte des Films sowie sein kultureller und zeitgenössischer soziopolitischer Kontext berücksichtigt. An der filmischen Historie interessiert Lagny gerade ihre ,Unrichtigkeit‘; ihr Forschungsinteresse gilt der Tatsache, daß ein sogenannter Historienfilm immer auch ein Produkt seiner Zeit ist. Dies zeigt sich etwa am Vergleich von französischen Wochenschauen der dreißiger Jahre und Jean Renoirs Revolutionsfilm La Marseillaise. Wie Lagny an der Struktur der Erzählung nachweist, entwickelt Renoir hier eine damals neue historische These: daß es nicht das Volk war, das an die Macht gelangte, sondern die Monarchie sich von innen her zersetzte. Auf entsprechend signifikante Weise markiert die raumzeitliche Organisierung des Films jeweils den Ort und die Rolle der Macht auf der einen und die des Volkes auf der anderen Seite.

Dem Phänomen der historischen Bedingtheit filmischer Repräsentation von Geschichte kommt auf andere Weise Henry M. Taylor bei, indem er in einer genregeschichtlich orientierten Analyse die Spezifik biographischer Figuren diskutiert. Am Beispiel von John Fords Young Mr Lincoln (1939) definiert Taylor den biographischen Film als Subgenre des fiktionalen Historienfilms, in dessen Zentrum die biographische Figur steht. Taylor zeigt, daß trotz der Definition des Genres als fiktional auch hier hybride Formen von Fiktion und Nicht-Fiktion entstehen, im Dienste einer Vorstellung vom historisch "Wahren" oder auch eines Effektes der Authentizität. Taylor bezieht sich in seinem Aufsatz kritisch auf eine lange Geschichte der Analyse dieser nationalen Gründungslegende, an deren Anfang die psychoanalytisch orientierte Genrestudie der Cahiers du Cinéma (1970) steht. Taylor zeigt die Notwendigkeit interdisziplinären Denkens bei der Beschäftigung mit Film nicht zuletzt dadurch, daß er Genreuntersuchungen, Formenanalyse, Filmtheorie, Narratologie und Sprechakttheorie miteinander verknüpft.

Daß aus dem Bereich der sogenannten Cultural History wesentliche Impulse für ein sozial-, kultur- und technikgeschichtliches Verständnis von Film kommen, zeigt der Beitrag von Michael Rogin. Der erste Tonfilm, The Jazz Singer, vereint eine technologische Innovation (die Integration von Sprache in das Laufbild) mit dem Register traditioneller Gestik (dem blackface-Gesang). Rogin analysiert den Film in Zusammenhang mit seinen kulturellen Kontexten: Wie in den Generationskonflikten der jüdischen Hollywoodmogule zeigt sich auch in The Jazz Singer eine Zerrissenheit zwischen ,alt‘ und ,neu‘, die aus dem blackface (der schwarzen Maske eines weißen Sängers) das Instrument der Integration und Amerikanisierung macht. Jüdisches blackface bedeutet in diesem Film ein der jüdischen wie der schwarzen Kultur gemeinsames Leiden und eine gemeinsame kulturelle Ausdrucksform, den Jazz. Blackface, so zeigt Rogin, vermählt jüdische mit nichtjüdischer Kultur, nicht jedoch weiß mit schwarz. Denn die Technik des blackface bedeutet Immigrantenanpassung, nicht aber die Aufhebung der Segregation der Schwarzen.

Der filmtheoretisch orientierte Beitrag von Christa Blümlinger beschäftigt sich schließlich mit Liliom, einem bisher wenig beachteten Film von Fritz Lang, der 1934 in Frankreich entstand und eine signifikante Zwischenstation eines Regisseurs zwischen Berlin und Hollywood markiert. In diesem vordergründig "phantastischen" Film wird die Gerichtsszene des "sozialrealistischen" Fury vorweggenommen: Der Zuschauer wird hier wie dort in einen verwirrenden Zeugenstand gehoben, denn es wird ihm bereits Gesehenes oder Erzähltes nochmals vorgeführt. Es handelt sich dabei nicht bloß um einfache Wiederholungen einer Szene (in gleicher oder abweichender Form) im Dienste einer Narration, sondern um die Macht des filmischen Dispositivs beziehungsweise des den Film strukturierenden Blicks. Vom Entstehungskontext seiner Zeit her und im Zusammenhang mit den beiden anderen, sozusagen sozialgeschichtlich "relevanteren" Filmen erscheint der phantastische Himmel von Liliom als Ausdruck der "Deterritorialisierung" eines Regisseurs.

Daß die zentralen Beiträge in diesem Heft von angloamerikanischen und französischen Wissenschaftler/inne/n stammen, ist kein Zufall: Deutschsprachige Arbeiten hinken – mit wenigen Ausnahmen – in diesem Bereich hinterher. Daß sich dies seit ein paar Jahren zu ändern verspricht, zeigen frühe, richtungweisende Sarnmelpublikationen von Georg Schmid oder, jünger, Rainer Rother.

Die einschlägige Forschungsgeschichte – und mögliche zukünftige Entwicklungen – bilden ein zentrales Thema des Gespräches zwischen Thomas Elsaesser, dem Doyen der New Film History, und der Heftherausgeberin Christa Blümlinger.

Im Forum nimmt der Philosoph, Psychoanalytiker und Begründer der Laibacher Lacan-Schule Slavoj Žižek zu einem der umstrittensten Filme der letzten Jahre Stellung: Emir Kusturicas Underground. In pointierter Weise werden hier filmanalytische Aspekte sowie Äußerungen des Regisseurs auf allgemeinere historische Entwicklungen (vor allem des letzten Balkankrieges) rückgebunden. Auch Irina Šlošar beschäftigt sich mit diesem Film, gelangt jedoch zu anderen An-und Einsichten.

Ein grundsätzlicher Text von Pierre Bourdieu über die symbolische Macht knüpft an das letzte Heft der ÖZG an, bezieht sich auf das vorliegende und verweist bereits auf das nächste.

Christa Blümlinger, Paris und Wien

Inhalte

Michèle Lagny
Kino für Historiker

Henry M. Taylor
Besonderheit biographischer Figuren. Young Mr. Lincoln als Genrefall

Michael Rogin
Blackface/White Noise. Der jüdische Jazz-Sänger findet seine Stimme

Christa Blümlinger
Geschichtsverlauf und Bildstillstand. Zu Liliom von Fritz Lang

Pierre Bourdieu
Über die symbolische Macht

Thomas Elsaesser/ Christa Blümlinger
Filme Kinos Geschichten Archive Forschungen

Slavoj Žižek
Underground oder: Die Poesie der ethnischen Säuberungen

Irina Šlosar
„Du lügst! Du lügst! Ah, wie schön du lügst!“

Gerhard Benetka
Sammelrezension

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