Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7. Jg., Heft 4, 1996

Welches Österreich

Es ist vorbei und gutgegangen. Das Jubiläum ,,50 Jahre Zweite Republik", das doch viel weniger Probleme zu bergen schien, hat – die Wehrmachtsausstellung einbezogen – die blauen Flecken gebracht, nicht das Millennium. Auch jene, die im Aufarbeiten der Schattenseiten "unserer" Vergangenheit die wichtige erzieherische Leistung der historischen Gedenkfeiern und -ausstellungen sehen, konnten in der Präsentation der tausend Jahre Bereiche finden, die für sie gestaltet waren. Sie konnten betroffen und erschüttert sein, zusätzlich zum tolerant-verständnisvollen und kreativen Österreicher auch den untertänigen, verhetzt-aggressiv-gewalttätigen sehen, zum Österreicher auch die Österreicherin, sich daraus eine ambivalente Nation konstruieren, und aus dem einen, für sie guten Teil der Nation ihre nationale Tradition beziehen.

Zur Geschichte Österreichs wurde vieles berichtet. Viele Personen, Ereignisse und Ideologien wurden analysiert und beschrieben. Anders war es mit dem Objekt selbst, mit der "tausendjährigen Geschichte Österreichs". Sie und ihre Konstruktionsprinzipien scheinen für die Ausstellungsmacher kein Problem gewesen zu sein. Dieses "tausendjährige Österreich" wurde gemacht und nicht beredet.

Mit der Frage, welches Österreich Historiker in den letzten 120 Jahren als Ausgangs- und Endpunkt ihrer Konstruktionen nahmen, über welches Österreich sie schrieben, welche Strukturen, welcher Sinn in der gegenwärtigen oder ersehnten Form zur Erfüllung kommen sollten, beschäftigt sich Gemot Heiss in seinem Beitrag über Historiker als Konstrukteure Österreichs. Der Treue zum ,Gesamtstaat‘ der Habsburger entsprachen sie, indem sie zwischen 1866 und 1918 Reichsgeschichten über die Ausdehnung der Herrschaftsrechte der Habsburger und mit der These von der rechtlichen Sonderentwicklung seit dem privilegium minus von 1156 vorlegten. Nach 1918 fand sich fast keiner von ihnen mit der Realität des Kleinstaates ab. Sie schrieben – im Sinne der Anschlußbewegung – von den historischen Bindungen Deutschösterreichs zum Deutschen Reich und von mitteleuropäischen Aufgaben der Österreicher als Teil des deutschen Volkes in Vergangenheit und Gegenwart. Auch nach 1945 fanden sich noch Spuren dieser Sicht auf die Geschichte Österreichs, zunehmend wurde jedoch die Republik in ihren Grenzen zum Ausgangspunkt der Konstruktion, zur endlich feststehenden und sinnstiftenden Konstante.

Gibt es Möglichkeiten, "Ethnizität", die Selbstzuordnung und -abgrenzung von Personengruppen, aus der Archäologie zu bestimmen? Falko Daim, der die Landesausstellung zum Millennium Awaren + Hunnen des "jüngsten Bundeslandes der Republik Österreich" (als ob dieses Österreich so viel älter wäre) wissenschaftlich betreute, untersucht diese Frage an den Awaren, zeigt die Vermischung von Kulturen des byzantinischen Ostens und des bayrisch-fränkischen Westens, die sich in den Gräberfunden materialisiert, sowie die Unsicherheiten, die sich bei deren Zuordnung ergeben.

In der Situation nach 1945, in der es österreichische Politiker und Publizisten für besonders wichtig hielten, ein Österreichbewußtsein durchzusetzen beziehungsweise zu aktivieren, vergegenständlicht sich diese Imagination in Beschreibungen Österreichs, der Österreicher (kaum der Österreicherinnen) und des Österreichischen. Siegfried Mattl zeigt die radikale Umorientierung in der Beschreibung des "österreichischen" Charakters zu einer positiven Besetzung jener als weiblich vorgestellten Züge, die vordem in der Beschreibung ,nationaler Eigenschaften‘ nur pejorativ verwendet worden waren. Diese Effeminierung des Österreichers, die keine Konsequenzen etwa in der Gesetzgebung hatte, sondern ganz in den Bildern blieb, war in der Abgrenzung vom ,virilen‘ Deutschen von Bedeutung.

Um die historische Kontingenz in den Repräsentationen "der" österreichischen Familie beziehungsweise "des" Paares in den Fernsehserien Familie Leitner und Wünsch dir was geht es im Beitrag von Monika Bernold. Sie untersucht den ‚Wechsel von der Serie mit der "authentischen" österreichischen Familie Leitner zum "Fernsehspiel" mit den kompetitiven Familien, die ihre Länder Österreich, Bundesrepublik Deutschland und Schweiz vertreten, und dem modernen Quizmaster-Paar auf seinen Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Veränderungen der 1960er Jahre und auf seine Beispielhaftigkeit für die Veränderungen in der "Wir"-Konstruktion, für die ,Modernisierung‘ des Selbstbildes der Österreicher/innen.

Bereits aus der Perspektive dieser Spezialstudien wird deutlich, warum wir im weiteren fragen: Welche Wirtschaft? Welche Juden? Welche Schlacht? Welcher Glanz? Welche Nation? Welches Österreich?

Gernot Heiss, Wien

Inhalte

Gernot Heiss
Im „Reich der Unbegreiflichkeiten“ – Historiker als Konstrukteure Österreichs

Falko Daim
Archäologie und Ethnizität. Awaren, Karantanen, Mährer im 8. Jahrhundert

Siegfried Mattl
Geschlecht und Volkscharakter. Austria engendered

Monika Bernold
ein paar österreich. Von den „Leitners“ zu „Wünsch dir was“. Mediale Bausteine der Zweiten Republik

Peter Berger u. a.
Welche Wirtschaft? Eine Auseinandersetzung mit Roman Sandgrubers ,Ökonomie und Politik‘

Hans Heiss
Welche Nation? Eine Auseinandersetzung mit Ernst Bruckmüllers ,Nation Österreich‘

Daniel Unowsky
Welche Juden? Eine Auseinandersetzung mit Steven Bellers ,Wien und die Juden‘

Peter Melichar
Welche Schlacht? Eine Auseinandersetzung mit Michael Kumpfmüllers ,Schlacht um Stalingrad‘

Lawrence Cole
Vom Glanz der Montur. Zum dynastischen Kult der Habsburger und seiner Vermittlung durch militärische Vorbilder im 19. Jahrhundert. Ein Bericht über ,work in progress‘

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