Bis in die siebziger und achtziger Jahre dominierte das Paradigma der Devianz, in dem Jugendliche von den Sozial- und Geisteswissenschaften vorrangig unter dem Aspekt ihrer sittlich-moralischen Gefährdung durch Industriegesellschaft und Großstadt thematisiert wurden. Maßgeblich durch die Arbeiten am Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham angeregt, vollzog sich ab den achtziger Jahren die Ablösung dieses Paradigmas durch Fragen nach jugendspezifischen Perspektiven, distinktiven Praxen und nach dem Stil von Jugendsubkulturen. Damit erweiterte sich das Spektrum der thematisierten Jugendlichen erheblich, blieb aber dennoch auf jene beschränkt, die durch eine eigene Art von Kleidung, Frisur, Tanz und Musik leicht unterscheidbar sind. Stilanalysen laufen Gefahr, Stil von jenen Handlungsspielräumen, Deutungen und Praxen abzulösen, in und aus denen er hervorgebracht wird. Seit den achtziger Jahren ist die Pluralisierung der Jugendkulturen und die ,Wanderung‘ von Jugendlichen durch diverse Stile festzustellen. Über die Kategorien und Instrumente der Analyse koppeln sich rezente Forschungen an den Diskurs um die ,Postmoderne‘ an.
Christa Höllhumer referiert die Behauptung, daß in der Kulturproduktion seit einigen Jahren ein Prozeß der "Befreiung der Bilder" von deren referentieller Funktion stattfinde. Mit dem nahezu weltweiten kommerziellen Durchbruch des Musikvideo-Senders MTV sei die von künstlerischen Avantgarden hervorgebrachte Befreiung der laufenden Bilder von einer Erzählung (narratio) mit Plot und Moral für Millionen zur Seh- und Hörgewohnheit geworden. Höllhumers These lautet: Überkommene Antagonismen wie Populärkultur versus Hochkultur, Kunst versus Kommerz, subversiv versus angepaßt, männlich versus weiblich etc. verfließen. Statt eines gesicherten Befundes findet sich eine Reihe offener Fragen.
Wilfried Ferchhoff und Dieter Baacke setzen sich mit der Stilbildung in Jugend(sub)kulturen auseinander. Die Autoren argumentieren für eine kultursoziologisch fundierte Sozialstrukturanalyse und besprechen in der Folge wichtige Beiträge zur Jugend(sub)kulturdebatte, wobei Arbeiten britischer Forscher/innen, die sich positiv, oder aber kritisch auf die Untersuchungen des Centre for Contemporary Cultural Studies beziehen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ferchhoff und Baacke kommen zum Ergebnis, daß aufgrund des Machtzuwachses kulturindustrieller Zentren und Konzerne mit weltweiten Distributionsnetzen nicht mehr von Jugendsubkulturen, sondern – weniger emphatisch – von Jugendkulturen gesprochen werden sollte.
Karl Stocker überprüft einige Deutungen der Phänomene Techno und Rave. Jugendliche dieser Szene paßten sich, heißt es, gänzlich an die Konsumgesellschaft an, sie seien unpolitisch und betrieben ,nur‘ die bewußtlose "Feier der Oberfläche": Exzessiver Drogenkonsum und nächtelanges Tanzen machten sie zu bewußtlosen Statisten auf der großen Party unseres Fin de siècle. Doch schon einige wenige Interviews mit ,Ravern‘ erschüttern dieses kulturpessimistische Bild. Zumindest in den Anfängen der Techno- und Rave-Szene in den USA und in Großbritannien ließen sich durchaus politische Elemente ausmachen: Bei Produktion und Distribution der Musik und bei der Organisation der Raves werde der Versuch unternommen, sich der Macht der Kulturindustrie zu entziehen. Über das Prinzip von Verschwendung und Verausgabung opponierten die ,Raver‘ gegen ihre Zurichtung zu disziplinierten Arbeitskräften. Der spielerische Umgang mit sozialen und sexuellen Ordnungen und Zuschreibungen mache sie zu einem ironischen Sozialtyp der Postmoderne.
Historische Tiefe erhält dieses sonst unüblich gegenwartsnahe Heft durch ein Interview mit dem Sozialhistoriker Michael Mitterauer. In selbstkritischer Reflexion seiner vor knapp zehn Jahren erschienenen Sozialgeschichte der Jugend beschreibt er sein heutiges historisch-anthropologisches Forschungsprogramm, als dessen zentrale Merkmale er den interkulturellen und den weit zurückgreifenden historischen Vergleich hervorhebt. Auch die historische Jugendforschung, so Mitterauer, werde künftig durch diese Ausweitung des Blicks an Einsichten gewinnen.
Dieter Groh und Martin Zürn setzen im Forum dieses Heftes die Debatte um "Gesellschaftsgeschichte" fort. Sie vergleichen die Gesellschaftsgeschichte Deutschlands von Hans-Ulrich Wehler mit der von Ernst Hanisch vorgelegten Gesellschaftsgeschichte Österreichs. Beide seien, bei deutlichen Unterschieden in Sprache und Darstellungsweise, "handlungsleer". Die Autoren schlagen vor, diesen Mangel durch die doppelte Rekonstruktion von Strukturen und Systemen einerseits und Lebenswelten andererseits aufzuheben.
Karl Stocker, Graz
Christa Höllhumer
„Nothing is real“. Zur kulturellen Dimension von Musikvideos
Wilfried Ferchhoff/Dieter Baacke
Jugendkulturen und Stile
Karl Stocker
Techno: Die List des Objekts
Michael Mitterauer/Karl Stocker
Sozialgeschichte der Jugend
Dieter Groh/Martin Zürn
Der lange Schatten der ,Gesellschaftsgeschichte‘ . Zur Problematik einer Konzeption
Peter Melichar
Die sich selbst zersetzende Synthese oder des Bürgers Ende
Franz X. Eder
Internet für Historiker/innen (IV)