Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 5. Jg., Heft 4, 1994

Biographie und Geschichte

Lange Zeit hatten Schriftsteller/innen und Historiker/innen keinen Zweifel daran, daß der Sinn der Geschichte des einzelnen, des Landes, der Nation, des "Menschengeschlechts" im Gang der Geschichte inbegriffen sei. Die an sich sinnhafte Geschichte fände in ihrer Erzählung als ,Geschichte‘ adäquaten sprachlichen Ausdruck. Der Glaube an den immanenten Sinn von ,persönlicher‘ wie von ,allgemeiner‘ Geschichte wurde – so referiert der Germanist Helmut Scheuer im ersten Beitrag dieses Heftes – zuerst für einige Literaten fragwürdig. Lange vor den Historikern erhoben sie zu Beginn unseres Jahrhunderts Einwände gegen die Erzählbarkeit von Geschichte als einer Entwicklung auf ein Ende hin, verbunden mit dem Anspruch, ,das Ganze‘, die ,Totalität‘ oder auch nur ,das Wesentliche‘ eines Geschehens in Geschichte(n) zu fassen. Sie riefen die "Krise des Romans" aus und suchten nach neuen Erzähltechniken, die anstelle der Konstruktion einer finalen "Entwicklung" die Brüche und Abbrüche, die Widersprüche, die Gleichzeitigkeit des Vergangenen und des Gegenwärtigen zu erfassen und zu präsentieren vermögen. Robert Musil war einer der herausragenden Autoren, die wiederholt gegen die "primitive Epik" der Geschichte als "Entwicklung" anschrieben. Die Reflexionen, die er seinem Ulrich oder seinem Törleß in den Mund gelegt hat, lassen sich etwa so zusammenfassen: Die perspektivischen Verkürzungen, die jeder Erzähler unvermeidlich produziert, weil er von seinem Standpunkt auf das Früher seiner imaginierten Vergangenheit, auf das Jetzt seiner imaginierten Gegenwart und auf das Später seiner imaginierten Zukunft blickt, täuschen ihm einen immanenten Sinn seiner Geschichte als "Entwicklung" vor. Die Folge ist – für jede Sozialwissenschaft eine Herausforderung – Geschichtsklitterung: Die Lücken schließen sich, die Widersprüche verschwinden, die Lebenserzählung verspricht die sinnhafte Entwicklung des Lebens auf seine Erfüllung hin, sei es in der Form des Dramas, der Komödie oder der Satire. Pierre Bourdieu behauptet, daß sich der einzelne darin mit seinem literarischen oder wissenschaftlichen Biographen treffe: Beide seien auf der Suche nach der "Entwicklung" der Person. Der Akteur und sein Biograph seien Komplizen in einem illusionären Projekt der Biographie, biographische Forschung in der Sozialwissenschaft daher ein fragwürdiges Unterfangen.

Inwieweit dies für die Seite des Akteurs und für die Seite seines sozialwissenschaftlichen Biographen (ob Soziologe, Historiker oder Ethnologe) zutrifft, läßt sich an den weiteren Beiträgen in diesem Heft gut überprüfen. Gabriele Rosenthal zeigt, daß die Geschichte, die sich ein Akteur gibt, nicht nur aus seiner Perspektive als einzelner formuliert wird, sondern auch in der Kommunikation mit ihm nahestehenden Personen ,ausgehandelt‘ wird. Am Fall einer Familie und der realen und phantasierten Verstrickung ihrer Mitglieder in die Verbrechen des "Dritten Reichs" demonstriert sie, daß die Lebenserzählung nicht nur – im Sinne Bourdieus – zugunsten einer kohärenten Vorstellung vom "eigenen" Leben als "Entwicklung" konstruiert wird, sondern auch aus einer intergenerationellen Dynamik, die sich dem Gestaltungswillen des einzelnen weitgehend entzieht: Schuldgefühle, Angstsymptome und Entlastungsstrategien werden von der NS-Generation an die Kinder und Enkelkinder ,vermittelt‘ , doch dabei in der Kommunikation, im Verschweigen und in den ausgelösten Phantasien transformiert. Lesen wir diese Fallanalyse im Hinblick auf Bourdieus Diktum von der lllusion der Biographie, ist daraus zu folgern, daß die Vorstellung, der einzelne konstruiere zwar perspektivisch, aber er konstruiere seine Lebensgeschichte immerhin selbst, noch einen gehörigen Rest idealistischen Denkens enthält.

Die Alternative zur "primitiven Epik" der Lebenserzählung als Entwicklungsgeschichte, die Literaten wie Robert Musil oder auch Filmtheoretiker wie Siegfried Kracauer schon in den zwanziger und dreißiger Jahren angeboten haben, war die Aufspannung von Handlungs- und Interpretationsmöglichkeiten im roman nouveau, im biographischen roman vrai Sartres oder im Film. Neuere sozialwissenschaftliche Methoden der Textanalyse wie die objektive Hermeneutik bedienen sich analoger Methoden der Pluralisierung von Sinn: Sie unterscheiden zwischen dem vom Erzähler gemeinten Sinn einer Äußerung und anderen denkbaren Bedeutungen, ihrem latenten Sinn. Damit wird das Subjekt zu einem Akteur, der für sich aus einer Mehrzahl von Möglichkeiten einen bestimmten Sinn realisiert. Ernst Langthaler überträgt in seinem Beitrag diesen Grundsatz der objektiven Hermeneutik auf die Analyse von Bildern und Texten eines Soldaten der Deutschen Wehrmacht. Um die Fotos auf ihre vom Soldaten und von seinem Freund, dem Photographen, realisierten und auf ihre für uns, die Betrachter, möglichen (latenten) Bedeutungen befragen zu können, müssen sie zunächst wie ein Text Zeile für Zeile gelesen und in Text übersetzt werden, ehe sie im Verfahren der objektiven Hermeneutik Sequenz für Sequenz interpretiert werden können. Die mit derselben Methode vorgenommene Analyse von schriftlichen und mündlichen Erinnerungstexten soll überprüfen, inwieweit diese Art der Analyse von Bildern zu einer Theorie des Falles führt, die sich in der Analyse seiner schriftlichen und mündlichen Texte bestätigt.

Die Leistung dieses Beitrags liegt nicht zuletzt darin, die Methode der objektiven Hermeneutik "unterwegs", "an der Arbeit" zu zeigen und nicht – wie sonst üblich – bloß die am Ende gebildete These zur Struktur des Falles als fertiges Ergebnis zu präsentieren. Der Vergleich zwischen den Lesarten, hier noch dazu der Vergleich zwischen Lesarten zu Bildern und geschriebenen und erzählten Texten, wird mancher Leserin und manchem Leser umwegig und übertrieben aufwendig erscheinen. Der viel zu selten möglich gemachte Blick in die Werkstatt des Interpreten scheint aber nützlich, um die Reflexivität in bezug auf den Vorgang der Textinterpretation zu erhöhen. Schließlich ist die Geschichtswissenschaft eine Textwissenschaft, die Texte interpretiert und Texte produziert. Entwicklung und Anwendung von Methoden der Textinterpretation, die das philologische Niveau des 19. Jahrhunderts übertreffen, sollten daher keine Marotte von "Grenzgängern" zwischen den Disziplinen, sondern ein zentrales Anliegen in den Geschichtswissenschaften sein.

Inwieweit und in welcher Weise der einzelne Akteur bei der Konstruktion seiner Lebensgeschichte – über die Kommunikation mit seinen nahen Angehörigen hinaus – Handlungs- und Deutungsbedingungen ausgesetzt ist, die wir als "gesellschaftlich" bezeichnen, ist auch eine zentrale Frage im Beitrag von Bettina Völter. Am Fall eines ehemaligen Offiziers der Nationalen Volksarmee und am Fall einer ehemaligen Krankenschwester aus der DDR zeigt sie, wie die gesellschaftlichen und staatlichen Transformationsprozesse der "Wende", der "Wiedervereinigung" der beiden deutschen Staaten und der neuen sozio-kulturellen und ökonomischen Konkurrenz der "Ost-" und "Westbürger" Deutschlands von den ausgewählten Akteuren bearbeitet werden. Ihr Befund – "erhöhter Identitätsdruck" – resümiert die ungewöhnlich hohe Fragwürdigkeit der biographischen Elemente vor, während und nach der "Wende": Die Erfahrungen bei den DDR-Pionieren und in der Freien Deutschen Jugend, das Engagement in der ostdeutschen Friedensbewegung, die Scheidung der Eltern, die von der DDR-Propaganda geschürte und zugleich familiengeschichtlich begründete Angst vor "denen im Westen" im Fall der Krankenschwester, die Abschottung des Offiziers im disziplinierenden System der Nationalen Volksarmee, danach sein politisches Engagement in der PDS oder sein Jura-Studium sind ,Verbindungen‘ der jeweiligen Biographie mit der ,allgemeinen‘ Geschichte. Staat und Gesellschaft werden umgebrochen, doch der Bekennungsdruck bleibt. Die neue fremde Welt des "Westens" fordert – wie die alte vertraute der DDR – ein klares Bekenntnis zu ihr. Die Art, wie man damit umgeht, ist verschieden: Aggression gegen diesen Druck im Fall der ehemaligen Krankenschwester, Abschottung gegenüber "dem Westen" im Fall des ehemaligen NVA-Offiziers, dessen alte Tugenden der Einordnung in ein Kollektiv in der Leistungsgesellschaft des vereinigten Deutschland nicht mehr zählen.

Die beiden Fallanalysen zeigen, daß gesellschaftliche Umbrüche dieses Ausmaßes in den Akteuren die Illusion einer kohärenten biographischen Entwicklung geradezu provozieren, um im Umbruch von Gesellschaft und Staat nicht unterzugehen. Ihre Versuche, die erfahrenen Widersprüche in einem eindeutigen Weltbild aufzulösen, fragwürdig gewordene Praktiken durch nachträgliche Umdeutungen (Reparaturstrategien) auszuscheiden und damit einen durchgehenden (Lebens-) Sinn zu konstruieren, werden wieder im Wege der sequentiellen Textanalyse rekonstruiert.

Alle drei textanalytischen Beiträge in diesem Heft zeigen: In der Suche nach dem latenten Sinn, den der Erzähler nicht weiß und nicht sagen will, zerbricht die Komplizität zwischen ihm, der um seine Biographie ringt, und der Sozialwissenschaft, die seine biographischen Strategien rekonstruiert und analysiert. Die von Bourdieu behauptete Komplizität zwischen dem Akteur und seinem wissenschaftlichen Biographen beschränkt sich also, so läßt sich resümieren, auf ihr gemeinsames Interesse an biographischen Texten; allerdings zu einem ganz verschiedenen Ende: Der Erzähler erzählt aus dem praktischen Interesse, sich selbst zu verstehen, der Sozialwissenschafter analysiert die Erzählung, um auf dem Weg der Rekonstruktion und Interpretation zu verstehen, wie erleidende und handelnde Akteure ihre Welt und damit die Geschichte strukturieren.

Reinhard Sieder

Inhalte

Helmut Scheuer
Biographische Modelle in der modernen deutschen Literatur

Gabriele Rosenthal
Zur Konstitution von Generationen in familienbiographischen Prozessen

Ernst Langthaler
Heinrich, die Kamera und die Militärzeit

Bettina Völter
„Ich bin diesen Feind noch nicht losgeworden“. Verschärfter Identitätsdruck für ostdeutsche junge Erwachsene

Gerhard Botz
Die Aufrechterhaltung einer sozialen Identität. Michael Pollak (1948 -1992)

Brigitte Entner
Spurensuche einer Region. Dornbirner Geschichtstage

Ernst Langthaler
Die Mythen und ihre Jäger. Reflexionen zum Symposion
„Niederösterreich/Südmähren 1945“

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