Antisemitische Einstellungen und Verhaltensweisen haben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als sozial resistent erwiesen und sind mit dem Wegsterben der letzten vom Nationalsozialismus geprägten Generationen keineswegs am Verschwinden. Spätestens in den letzten Jahren und Monaten wurde die Illusion zerstört, in einem demokratisch regierten Land sozialisiert zu werden bedeute auch automatisch, demokratische und pluralistische Grundhaltungen zu entwickeln. Populistische Stellungnahmen zu der sich ausbreitenden Xenophobie und zum nachnazistischen Antisemitismus begnügen sich mit schein-pragmatischen Erklärungen: Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Überlastung von Schulen und Ämtern etc. – die Benennung derlei real existierender Probleme wird in rassistische Schuldzuweisungen umfunktioniert, eine bekannte Vorgangsweise.
Bis in die 1980er Jahre, soweit sind sich die Autorinnen und Autoren dieses Heftes einig, hat zumindest auf der politischen Vorderbühne (Goffman) Konsens darüber bestanden, daß rassistische Einstellungen im allgemeinen, und antisemitische Haltungen im besonderen dem demokratischen Grundkonsens der Nachkriegsrepubliken widersprechen. In Österreich ist dieser Konsens in der Ära Waldheim, und hier vor allem im Bedenkjahr 1988, zerbrochen. Wie die Sozialwissenschafter Christian Fleck und Albert Müller in ihrem Beitrag über den nachnazistischen Antisemitismus betonen, entbrennt in diesem Jahr die breite öffentliche Diskussion, was als "antisemitisch" zu gelten habe: Die seitdem beliebte Argumentation, antisemitische Äußerungen würden einer Person oft nur "hervorgelockt", von ihr "unbedacht fallengelassen" oder von anderen aus dem "Zusammenhang gerissen", orientiert sich ausschließlich an der ,Peinlichkeit‘ der unwillkürlichen Botschaft, nicht aber an den Ungeheuerlichkeiten der transportierten Einstellung. 1987 initiierten maßgebliche politische Stellen in Österreich eine Umfrage über antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung: Eine großangelegte Untersuchung, die von mehreren Meinungsforschungsinstituten durchgeführt wurde, sollte Licht ins Dunkel der österreichischen Seele bringen. Die federführenden Meinungsforscher stellten aufatmend fest, daß es in Österreich nur sieben Prozent "Antisemiten" gäbe, etwa ein Drittel der Befragten sei latent antisemitisch. – Geschönte Ergebnisse, wie Christian Fleck und Albert Müller nachweisen, erreicht durch definitorische und rechnerische "Kunstgriffe".
Die Soziologin Gabriele Rosenthal zweifelt in ihrem Aufsatz über Antisemitismus im lebensgeschichtlichen Kontext ganz generell an der Erklärungskraft der quantifizierenden Einstellungsforschung. Sie könne das Handeln und Deuten von Menschen in bestimmten historischen Situationen niemals erklären, sondern bestenfalls beschreiben. Auch die Sündenbocktheorie oder die These vom "autoritären Charakter" hält RosenthaI für nicht hinreichend. Viel eher, meint die Soziologin, sei die Erforschung der lebensgeschichtlichen Erfahrungen von Menschen geeignet, Erklärungen für Antisemitismen zu finden. In lebensgeschichtlichen Interviews sucht sie daher nach der "intergenerationellen Tradierung des antisemitischen Habitus". Ihre zentrale These ist, daß Jüdinnen und Juden schon vor dem organisierten Massenmord sukzessive derealisiert und dehumanisiert worden sind. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs tauchten die Überlebenden wieder im Gesichtsfeld der nicht-jüdischen Deutschen und Österreicher/innen auf und erinnerten sie an ihre Schuld. Die entstehenden Schuldgefühle wurden im Wege der Schuldumkehrung den Jüdinnen und Juden angelastet: Antisemitismus wegen Auschwitz.
Das Verschwinden dieser Vergangenheit befürchtet der Historiker Frank Stern in seiner Analyse der jüngsten politischen Entwicklungen in Deutschland. Die deutsche Einheit habe den deutsch-jüdischen Diskurs neuerlich belastet: die "nationale Wende" komme einer Wende "weg von den Konsequenzen des Dritten Reiches" gleich. Unter "jüngster Vergangenheit" verstünde man nun nicht mehr "die Belastungen durch die Täterschaft in der NS-Zeit", sondern die "Taten und Missetaten des DDR-Regimes", die NS-Vergangenheit werde von der Stasi-Vergangenheit überlagert. Wenn überhaupt, so sei nur mehr von (der Unmöglichkeit) "materieller Wiedergutmachung" an den Opfern der Shoa die Rede. Mit dem Zeitpunkt der Einheit, so Stern bitter, scheint die historische Stunde der deutschen Versöhnung mit der eigenen Geschichte gekommen zu sein. Dies müsse durch Erinnerungsarbeit verhindert werden. Es dürfe sich kein politisch-kultureller Konsens bilden, daß Deutsch-Sein (neuerlich) der einzige identitätsstiftende Faktor der politischen Zukunft Deutschlands werde.
Ähnlich wIe Gabriele Rosenthal, aber mit einer anderen Schwerpunktsetzung, sucht auch die Historikerin Johanna Gehmacher nach tieferliegenden Gründen für antisemitische Einstellungen in den lebensgeschichtlichen Erfahrungen früherer Generationen. Gehmacher sucht nach den Wurzeln antisemitischer Haltungen im Geschlechterdiskurs der Nationalsozialisten einerseits und in der Entwicklungsproblematik sexueller Identitäten andererseits. Der Entwurf des Geschlechterverhältnisses, so Gehmacher, sei im Nationalsozialismus stets mit der Kategorie "Rasse" verknüpft gewesen. Die Denunzierung des jüdischen Mannes als sexuell pervers habe in erster Linie der ideologischen Konstruktion nicht-jüdischer Männlichkeit gedient. Frauen definierten die Nationalsozialisten als "schwache Stellen im Volkskörper" und als geeignete Angriffsziele der sexuellen Attacken "des Juden". ‚Wie in keinem anderen ideologischen Feld, so die zentrale These, konnten Begehren und Aggression gegenüber Frauen im antisemitischen Rassendiskurs gebündelt und gelebt werden. Ähnliche Konstruktionen ortet die Sozialhistorikerin auch auf Seiten der Frauen; auch hier sei alles, was an Männern bedrohlich war, auf "Juden" projiziert worden. Durch die gemeinsame Konstruktion des sexueli aufgeladenen Feindbildes seien die Ambivalenzen und Bedrohungen im nicht-jüdischen Geschlechterverhältnis nicht zum Ausbruch gekommen und "familiär" geblieben, was die psychisch-emotionale Stabilität der "Volksgemeinschaft" garantiert habe.
Antisemitismus widerspricht allen programmatischen Grundsätzen der Sozialdemokratie; daß sich in ihren politischen Praktiken dennoch eine Fülle antisemitischer Einstellungen und Verhaltensweisen finden, weist der Politologe Anton Pelinka in seinem Beitrag nach. Österreichische Lagerkommandanten stehen im Zentrum der Skizze von Gabriele Anderl über die Lebenswege und Karrieren von "Judenspezialisten", die an der Vernichtung und Ermordung jüdischer Männer und Frauen aktiv beteiligt waren. Heinrich Berger fragt in seinem Beitrag nach der Empfänglichkeit von Wiener Handwerkern des späten 19. Jahrhunderts für antisemitische Politik. Beschlossen wird das Forum durch Brigitte Vogel, die die Berliner Ausstellung Jüdische Lebenswelten besucht hat und dort mit einer ästhetischen Inszenierung jüdischer Kultur konfrontiert worden ist, die auf die Darstellung der Shoa bewußt verzichtet hat.
Die widersprüchlichen Reaktionen und Meinungen – unkritischer Ästhetizismus und Verdrängung der Shoa oder gelungene Reinszenierung jüdischer Kultur? – verweisen auf die grundlegende Frage, ob und wie die ,jüdische Geschichte‘ nach Auschwitz überhaupt noch ,ausgestellt‘ werden kann. Für die Überlebenden ist die Shoa Kristallisationspunkt aller Erinnerungen, sind Geschichte und Kultur ihrer Vorfahren mit deren Sterben in den Vernichtungslagern untrennbar verbunden. Auch die Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden sind bis heute – latent oder manifest – davon berührt. Jüdisches Leben vom Massentod, nicht-jüdische Existenz vom Massentöten abzukoppeln ist nicht möglich. Allerdings: Durch die starke Historisierung der Shoa wächst die Gefahr, sie aus dem aktuellen politischen Diskurs auszublenden und Raum für neue und alte Geschichtsmythen zu schaffen. Zwischen der Relativierung der jüdischen Leidensgeschichte durch öffentliche Meinungsträger und ihrer Leugnung und Verächtlichmachung durch bekennende Antisemiten entsteht ein fatales Wechselspiel. Dem muß durch das Erkennbarmachen der politischen Absichten der neuen Brandstifter, die Zerstörung historischer Mythen, vor allem aber durch das Wachhalten der schmerzvollen Erinnerungen entschlossen entgegengetreten werden.
Ulrike Döcker, Wien
PS: Im Heft 3/1992 unterlief der Redaktion ein bedauerlicher Fehler: Die Rezension des Buches von Alfred Kohler wurde nicht von Brigitte Vogel, sondern von Sabine Vogel verfaßt. Wir bitten um Entschuldigung.
Johanna Gehmacher
Antisemitismus und die Krise des Geschlechterverhältnisses
Gabriele Rosenthal
Antisemitismus im lebensgeschichtlichen Kontext
Christian Fleck/ Albert Müller
Zum nachnazistischen Antisemitismus in Österreich
Frank Stern
Die deutsche Einheit und das Problem des Antisemitismus
Anton Pelinka
Sozialdemokratie und Antisemitismus
Heinrich Berger
Wiener Handwerker und Antisemitismus im 19. Jahrhundert
Gabriele Anderl
Die Kommandanten des jüdischen Ghettos in Theresienstadt – ein Arbeitsbericht
Brigitte Vogel
Jüdische Lebenswelten. Eine Ausstellungskritik