Historikerinnen und Historiker beginnen sich zu fragen, wie und warum sie selbst am Gedächtnis einer Gesellschaft mitproduzieren. Pierre Nora hat dafür den Begriff lieux de mémoire geprägt. Wenn sich Geschichtswissenschaft mit ,Gedächtnisorten‘ beschäftigt, destruiert sie Geschichtsmythen, betreibt sie Kritik. Noras bevorzugte Orte der Erinnerung sind die der französischen Nation, er entmythisiert die Mythen und Stereotypen der grand nation. Wie Berthold Unfried in seinem Beitrag berichtet, erhält damit das ,Ereignis‘ – von den Annales im Kampf gegen eine positivistische ,Ereignisgeschichte‘ verabschiedet – als symbolische Inszenierung und Re-Inszenierung, als Element kollektiver Geschichte, neues Gewicht. In einem von Unfried geführten Interview kommt "Monsieur la mémoire", Pierre Nora, auch selbst zu Wort.
Die Transformation von lebendiger Vergangenheit und Tradition in Geschichte vollzieht sich unter anderem durch Musealisierung. Ulrike Weber-Felber und Severin Heinisch verfolgen die Metamorphosen des Mediums Ausstellung von den ersten öffentlichen Präsentationen von Kunstwerken im 18. Jahrhundert über die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts bis zum Boom historischer Ausstellungen in den letzten Jahren. Aber läßt sich Vergangenes, gegen den Eigen-Sinn des Wortes, in Ausstellungen vergegenwärtigen? Dies fragt Wolfgang Ernst, Museologe in Leipzig. Geschichte sei eine genuin literarische Konstruktion, an Erzählung gebunden. Im Museum liefen die ausgestellten Bilder und Gegenstände den erklärenden Texten (die an den Bildern und Objekten angebracht sind, und/oder in den Köpfen der Betrachter entstehen) hinterher. In der elektronisch-massenmedial dominierten Gegenwart wirke das historische Museum wie ein "Findling der Aufklärung". Das Museum könne Geschichte nur allegorisieren und damit in ihrer Unausstellbarkeit zum Thema machen. Sowohl für das Museum als auch für die Denkmäler der Erinnerung an Genozid, Krieg und Terror erscheint die künstlerische oder die künstliche Verdichtung die einzige Möglichkeit, die Nicht-Sagbarkeit auszudrücken (Lyotard). Und nur durch die Visualisierung von Sprachmetaphern könne aus- und dargestellt werden, was ansonsten der narrativen Abstraktion der Geschichtsschreibung vorbehalten bleibe. Eine unmediatisierte Historio-Vision sei ein unerfüllbarer Traum.
Georg Schmid behandelt in seinem Essay die Bilder, die man (sich) über die Französische Revolution in Filmen machen kann. Wie wirken Bilder und Filme als symbolische Gedächtnisorte? Die Spezifika des Gegenstandes verlangen nach einer adäquaten Methode. Schmid findet sie in der Semiologie, die, für historische und historisierende Bilder engagiert, zu Semiohistorie (auch Imagologie) wird. Ihre zentrale Prämisse ist, worauf freilich schon Johann G. Droysen hingewiesen hat: alle Historie übersetzt Vergangenheit in Sprache. Semiohistorie versucht, die Bildersprache der Historie zu entschlüsseln.
Daß die Inszenierung öffentlicher Orte der Erinnerung nicht nur in Frankreich ein Mittel zur Beförderung von Nationalbewußtsein ist, zeigt Andreas Ludwig mit dem Streit um das Deutsche Historische Museum, das auf Wunsch der Regierung als ,Kathedrale der Erinnerung‘ neu gebaut werden soll. Bertrand Perz u.a. referieren die jüngsten Diskussionen um die Neugestaltung des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen.
In Osteuropa sind die Erinnerungen an die Verbrechen des Stalinismus noch zu ,heiß‘ , um sie mit ,kaltem‘ analytischem Blick zu bewerten. Die Symbole der gestürzten Regime werden hier nicht musealisiert sondern eliminiert. Man stürzt die Statuen Lenins, sein Leichnam soll endlich begraben werden. Nur im finnischen Tampere, wo Lenin den Finnen ihre Unabhängigkeit versprochen hat, erfreut sich ein Lenin-Museum als Ort der aktiven Erinnerung wachsender Besucherzahlen, berichtet Aimo Minkkinen.
Orten der Erinnerung eignet häufig eine religiöse Feierlichkeit. Diese Rückbindung (religio) an physisch-räumliche und symbolische Orte der Erinnerung wird in Kriegen gewaltsam zerstört. Das ist in diesen Tagen die Wirklichkeit Kroatiens. Neven Budak (Zagreb) beschreibt die Zerstörung kroatischer Städte und Dörfer, die, von den Menschenopfern nicht zu sprechen, auch eine Zerstörung von Denkmälern ist.
János M. Rainer fragt nach den Demokratievorstellungen in der Ungarischen Revolution 1956 und nimmt damit das Generalthema des letzten Heftes (ÖZG 1991/3) wieder auf.
Reinhard Sieder, Wien
Ulrike Weber-Felber/Severin Heinisch
Ausstellungen
Wolfgang Ernst
Das historische Museum
Georg Schmid
Die Internationale der Bilder
Berthold Unfried
Gedächtnis und Geschichte
Andreas Ludwig
Das Deutsche Historische Museum
Gottfried Fliedl u. a.
Den Toten zur Ehr?
Aimo Minkkinen
Lenins letztes Museum?
Neven Budak
Gedächtnisorte verbrennen
János M. Rainer
Demokratievorstellungen in der Ungarischen Revolution 1956