Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 13. Jg., Heft 4, 2002

Agrarfragen

»Bauern«, peasants, paysans – all diese Etiketten bezeichnen Konzepte, die Einzelnen und Gruppen bestimmte Orte zuschreiben. Solche Verortungen finden in unterschiedlichen, wechselseitig aufeinander bezogenen Räumen statt: im Raum der sozialen (Klassen-) Beziehungen ebenso wie im Raum der symbolischen (Identitäts-) Beziehungen. Erstere verweisen auf materielle und immaterielle Werte, die im Prozess von Produktion, Distribution und Konsumtion zwischen Akteurinnen transferiert werden; letztere sind daran geknüpft, welche Akteurinnen sich (nicht) als >Bauern< – hier als Chiffre für die derart adressierten Frauen und Männer verstanden – identifizieren oder als solche (nicht) identifiziert werden. Die sozialen und symbolischen Verortungen des >Bauern< wechseln mit zeit- und raumspezifischen Bedingungen des Denkens und Handelns. Das zeigen etwa die akademischen, in master narratives eingebetteten Debatten um die »Agrarfrage« (Karl Kautsky 1899) im deutschsprachigen Raum im 20. Jahrhundert: rechte Romantikerinnen sehen im >Bauern< die Verkörperung konservativer und nationaler Tugenden; rechte Modernisiererinnen betrachten ihn als unzeitgemäßes Relikt in der nivellierten Wohlstandsgesellschaft; linke ModernisiererInnen begreifen ihn als Auslaufmodell auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft; linke Romantikerinnen feiern ihn als eigensinnigen Widerpart bürokratischer und kapitalistischer Kolonialisierung. Mit dem Auf- und Abstieg solcher Diskurse stehen und fallen auch die damit verknüpften Konzepte des >Bauern<,

Vor diesem Hintergrund weitet sich der Gegenstand der historischen Sozial- und Kulturwissenschaften aus: Es geht nicht mehr ausschließlich darum, möglichst plausible Geschichten über >Bauern< zu erzählen; diese Erzählungen gewinnen nunmehr einen Gutteil ihrer Plausibilität daraus, dass sie die expliziten und impliziten Konzepte des >Bauern< selbst in Frage stellen. Solche reflexiven Bezüge billden ein gemeinsames Anliegen der AutorInnen dieses Heftes; die Strategien zu dessen Einlösung variieren nach den jeweiligen Wissenschaftskulturen. Michael Kearney und Michael J. Watts entwerfen aus Rückblicken auf die peasant studies, dem Brennpunkt der interdisziplinären Debatte über >Bauern< in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, unterschiedliche Zukunftsperspektiven: Michael Kearney, der sich seit Jahrzehnten mit ländlichen Migrantlnnen und deren Familien im mexikanisch-kalifornischen Grenzraum befasst, sieht im polybian das adäquate Konzept für eine, seinen Worten nach, global anthropology. Damit konzeptualisiert er die Überlebensstrategien und Identitäten von Personen, die in mehreren, unterschiedlichen Logiken folgenden Feldern agieren: Subsistenzproduktion auf eigenem Grund und Boden, Arbeitsmigration und Lohnarbeit in kommerzialisierten Agrarbetrieben, Kontraktlandwirtschaft für agroindustrielle Konzerne, informelle Dienstleistungen in den urbanen Zentren, Fertigung von Massenartikeln für die Tourismusindustrie, und so fort. Michael J. Watts hingegen erachtet das Konzept des simple commodity producers im Sinne einer kontradiktorischen Einheit von Arbeit und Kapital für flexibel genug, um die Vielfalt bäuerlicher Existenzweisen in der globalisierten Welt abzudecken. Er wendet sich gegen die >Neuerfindung< der Bauern als subalterne, hybride oder radikal neue kulturelle Identitäten und plädiert für eine Rückbesinnung auf Fragestellungen, die in der Tradition marxistischer Diskussionen um die >Agrarfrage< stehen. Die unterschiedlichen Standpunkte, die beide Autoren in ihren Hauptbeiträgen entwickeln, bieten Anlass für einen engagierten Dialog, der vom gemeinsamen Bemühen um Präzisierung, Differenzierung und Reflexivität getragen ist. Der letzte Hauptbeitrag thematisiert bäuerliche Akteurlnnen anderer Zeiten und Räume: Frank Konersmann untersucht die Wirtschaftsweise und die sozialen Verhältnisse großteils mennonitischer »Bauern-Kaufleute« in der Pfalz und Rheinhessen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.

Auch die Forumsbeiträge dieses Heftes beleuchten Aspekte bäuerlicher AkteurInnen, die bisher noch zur Gänze oder teilweise im Dunkeln gelegen sind: Erhard Chvojka zeigt an bürgerlich-städtischen Diskursen in der frühen Neuzeit über die >Rückständigkeit< bäuerlichen Zeitbewusstseins, dass dabei weniger die Mentalitäten der Beobachteten, als jene der auf Distinktion bedachten BeobachterInnen verhandelt wurden. Tobias Kies entdeckt an den »Salpeterern«, einer bäuerlichen Widerstandsbewegung gegen staatliche Disziplinierung in einer südwestdeutschen Region im 19. Jahrhundert, dass das Festhalten am scheinbar >Alten< auch eine Strategie zur Aneignung des >Neuen< darstellen konnte. Eva-Maria Stolberg rückt das Klischee von der Passivität der russischen Bauernschaft während der stalinistischen Zwangskollektivierung zurecht, indem sie deren aktive Rolle in den Auseinandersetzungen mit Staat und Partei betont. Gemengelagen von Traditionalität und Modernität kennzeichnen den ambivalenten Diskurs der ländlichen Frauenzeitschrift Donne rurali im Italien der fünfziger Jahre, den Luisa Tasca einer eindringlichen Analyse unterzieht. Wie der Beitrag von Gesine Gerhard über den Deutschen Bauernverband zeigt, gelang die Integration der potenziell systemoppositionellen Bauernschaft in das parlamentarisch-demokratische System der Bundesrepublik Deutschland – und damit die vorläufige >Lösung der deutschen Bauernfrage< – in den fünfziger Jahren über einen Mix aus >rückwärtsgewandter< Bauerntumsideologie und >fortschrittlicher<, auf den Mittel- und Großbetrieb ausgerichteter Agrarstrukturpolitik. Abschließend skizzieren Ernst Langthaler und Josef Redl, ausgehend von einem Tagungsbericht, gegenwärtige Tendenzen der Agrargeschichtsforschung im deutschsprachigen Raum. Das Ende dieses Heftes bildet Albert Müllers Nachruf auf Heinz von Foerster, der in diesem Jahr verstorben ist.

Erich Landsteiner / Wien
Ernst Langthaler / St. Pölten

Inhalte

Michael Kearney
Transnational Migration from Oaxaca, the Agrarian Question and the Politics of Indigenous Peoples

Michael J. Watts
Chronicle of a Death Foretold: Some Thoughts on Peasants and the Agrarian Question

Michael Kearney/Michael J. Watts
Rethinking Peasants. A Dialog

Frank Konersmann
Existenzbedingungen und Strategien protokapitalistischer Agrarproduzenten. Bauernkaufleute in der Pfalz und in Rheinhessen (1770-1860)

Erhard Chvojka
Die Uhr in den Mund nehmen. Neuzeitliche Diskurse zur ,Rückständigkeit‘ bäuerlichen Zeitbewusstseins

Tobias Kies
»Wir Brechen nichts altes und Nemmen nichts Neües an.« Sozialdisziplinierung und ländlicher Eigensinn am Beispiel der Salpeterer im 19. Jahrhundert

Eva-Maria Stolberg
»Tod dem Kulaken!« Agrarindustrialisierung und bäuerliche Identitäten im Stalinismus (1927-1935)

Luisa Tasca
Von der Bäuerin zur Christdemokratin. Die Zeitschrift Donne rurali im Italien der fünfziger Jahre

Gesine Gerhard
Zwischen Systemkonformität und -opposition. Der Deutsche Bauernverband und die politische Eingliederung der Bauernschaft in die Bundesrepublik Deutschland in den fünfziger Jahren

Ernst Langthaler/Josef Redl
Agrargeschichte wohin? Reflexionen zur Tagung »Landwirtschaft und Gesellschaft von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart«

Albert Müller
Heinz von Foerster (1911-2002)

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