Es liegt nicht nur an den vermeintlichen und dennoch oft dogmatisch verteidigten institutionellen Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen, dass Methoden, Begriffe, Fragestellungen und Argumente, welche andernorts ihre intellektuelle Stringenz und Plausibilität bereits theoretisch und praktisch unter Beweis stellen konnten, in sachverwandten Forschungsgebieten nicht oder nur mit großen Verzögerungen aufgenommen werden. Denn es liegt auch daran, dass Verwirrung und Irrtum konstitutive Elemente jedes wissenschaftlichen Erkennens sind. Diesen Umstand hat Gaston Bachelard mittels einer psychoanalytischen Deskription der wissenschaftlichen Objektivierungen und anhand zahlreicher naturwissenschaftlicher Beispiele mit dem Begriff des epistemologischen Hindernisses(1) beschrieben und dabei mehrfach betont, dass neue Wissensformen sich nicht im kontinuierlichen Fortschreiten intersubjektiver Erkenntnisüberprüfung im Kreis einer homogenen wissenschaftlichen Gemeinschaft ergeben und etablieren, sondern sich immer gegen einen bereits vorhandenen, tradierten und institutionalisierten wissenschaftlichen Diskurs konstituieren, der nicht auf die kommunikative Aktivität von Individuen oder Kollektiven reduziert werden kann. Als ein methodisches Verfahren der Rationalität, des Wissens und des Begriffs steht Bachelards Historische Epistemologie nicht zuletzt deshalb in direktem Gegensatz zu einer auf Erfahrung, Sinn und Subjekt ruhenden Argumentation, welche in der Art einer Geschichts- oder Transzendentalphilosophie die spezifische Streuung und Historizität der Wissensformen und -systeme totalisiert und homogenisiert. Deshalb bleibt daran zu erinnern, dass – wie Georges Canguilhem mehrfach nahegelegt hat – die Vergangenheit einer Wissenschaft nicht dieselbe Wissenschaft in ihrer Vergangenheit darstellt.(2)
Es ist bemerkenswert, dass Methode und Ergebnisse der Historischen Epistemologie, die – wie ihr Name ja zeigt – der Geschichte eine herausragende Rolle zuordnet, ihrerseits in den historischen Wissenschaften bis dato nur im Umkreis der Wissenschaftsgeschichte diskutiert wurden, wenngleich ihre Anwendbarkeit im Hinblick auf andere Fachbereiche kaum bestritten werden kann. Ist doch etwa der Begriff der historischen Möglichkeitsbedingung, wie er nicht zuletzt von den Vertretern der Annales nachdrücklich propagiert wurde, gerade im Umkreis der Historischen Epistemologie definiert worden und verbindet so noch die aktuelle Historiographie zutiefst mit jenen Fragen, welche die Überkreuzung von Erkenntniskritik und Geschichte gerade dann betreffen, wenn anhand von möglichst genau definierten Materialsammlungen (»Quellen«) ein historisches Objekt der Analyse konstruiert wird und werden muss. Denn im Gegensatz zu der mehr als geläufigen Annahme, wissenschaftliche – mithin auch historische – Objekte seien natürlich oder empirisch vorgegeben, zeigen gerade die Geschichte(n) von Physik, Chemie und Mathematik bei Bachelard oder jene von Naturgeschichte, Biologie und Genetik bei Canguilhem, dass die Gegenstände einer Analyse nicht in einer prädiskursiven Ordnung der natürlichen Dinge stehen, welche mittels einer Abbildtheorie erfahren werden könnte. Vielmehr sind es die spezifischen Strukturen der Kategorien, Begriffe oder Deduktionen, welche zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte – und daher in einem begrenzbaren Zeitraum – die möglichen Erfahrungen und mithin auch die möglichen Objektkonstitutionen unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen codieren, wodurch letztere auch aktualiter in einem relationalen Verhältnis zueinander stehen. Dass dies gerade wegen der spezifischen Labilität des historischen Wissens in besonderem Maße auf die Geschichtswissenschaft zutrifft, ergibt sich nicht zuletzt durch die Analyse der Geschichte(n) von Psychologie, Soziologie und Anthropologie(3), welche ja bekanntermaßen Grund- und Begründungsdisziplinen der »modernen« Geschichtswissenschaft darstellen: Fusionsbegriffe wie Mentalitätsgeschichte, Historische Sozialwissenschaft oder Historische Anthropologie führen diesen Umstand eindringlich vor Augen.
Die genannten Konstellationen legen einer jeweiligen Disziplin bestimmte Formationsregeln auf, die aktualiter eine große Zahl an Aussagen ermöglichen, in einer definierten Textauswahl einer vergangenen Wissenschaft aber methodisch begrenzt werden können. Und so wird dem virtuellen Archiv(4) der aktuellen Geschichtswissenschaft in diesem Band indirekt nachgegangen, wenn die Archive des Policey-, Staats- und Verwaltungswissens (Neurath), die Archive von Soziologie und Quantifizierung (Katzmair), die Archive der Volkswirtschaft (Rauchenschwandtner) oder die Archive der Theologie (Hoerl) anvisiert werden. Nicht nur zwischen den Zeilen blitzt der historische Diskurs im Rahmen dieser historischen Analysen in Relation zu politischer Autorität, soziotechnischer Involvierung, dogmatischer Begründung und missionarischer Funktion auf. Wolfgang Neurath legt dahingehend in Rekurs auf Michel de Certeau nahe, dass der Historiker eine Fiktionalisierung der Politik unternimmt, indem er die Stelle der Autorität nur nachspielen kann und so seinerseits zum Konstrukteur eben dieser Macht wird, die er nicht hat. Harald Katzmair hebt anhand der Soziologie des 19. Jahrhunderts die spezifische Funktion von Geschichte im Hinblick auf politische und moralische Involvierungen der Quantifizierung hinsichtlich der Unterscheidung zwischen dem Normalen und dem Pathologischen hervor. Hermann Rauchenschwandtner verweist darauf, dass Geschichte als behauptete Gemeinsamkeit eines Volkes am Beginn des 19. Jahrhunderts eine Möglichkeitsbedingung der ökonomischen Konstitutionen politischer Subjekte abgibt. Eric Hoerl markiert die Funktion der Religionsgeschichte rund um 1900, welche im permanenten Umgehen der Ordnung des Alphabets mit der diskursiven Produktion einer primitiven Mentalität verbunden ist.
Diese Historisierungen von Technologie, Soziologie, Ökonomie und Theologie folgen dabei in ihren Beschreibungen mit unterschiedlicher Intensität jenen Wegen, welche Forscher wie Michel Foucault(5) oder Jean Pierre Faye(6) mit dem Plan zur Erstellung einer allgemeinen Theorie und Analytik von Aussageformationen, Sprachökonomien und Performanzregeln einschlugen. Unter dem Titel Diskursanalyse gehört eine derartige Vorgehensweise in den Debatten der Philosophie- und Literaturgeschichte heute – neben anderen gleichnamigen Vollzügen – zum methodischen Standardrepertoire möglicher Verfahren. Im Rahmen der Geschichtswissenschaft wurde diese Methode und ihr Forschungsbereich indes nur unzureichend diskutiert und oftmals durch den negativen und polemischen Verweis auf den Postmodernismus oder auf den – ungenau bestimmten – linguistic turn abqualifiziert. Dass indes gerade diese am Strukturalismus geschulte Form der Diskursanalyse – darin der Historischen Epistemologie folgend – nachdrücklichst als eine historische Methode und Deskriptionsform ausformuliert und beständig an historischen Fragestellungen und Materialien überprüft wurde, ging dabei schlicht unter. Dem versucht dieser Band entgegenzutreten, indem anhand konkreter Bereiche der historischen Forschung gezeigt wird, dass die Methode der Diskursanalyse in mehrfachem Wortsinn als historisierendes Verfahren zu begreifen ist, das man als eine Kritische Geschichte der Rationalitäts- und Wissenssysteme bezeichnen kann. Eine erkenntniskritische Geschichte, die eine neuartige Überwindung der Gegensätze von »Wort und Sache, von Geist und Leben, von Bewußtsein und Sein, von Sprache und Welt«(7) in Aussicht stellt.
Die symbolischen Formen der diskursiven Ökonomien durch- und zerschneiden dabei transversal die genannten Oppositionen, um auch noch im methodischen Gegensatz von Begriffsgeschichte (Wort, Geist, Bewusstsein, Sprache) und Sozialgeschichte (Sache, Leben, Sein, Welt) ein unkritisches Pendeln zwischen Idealismus und Materialismus zu vermerken, das – trotz der oft wiederholten Ablehnung der Königsdisziplin Philosophie im Rahmen geschichtswissenschaftlicher Debatten – von der metaphysischen Spiegelfechterei mancher Philosophenphilosophien (Bachelard) kaum zu unterscheiden ist. Dass die Begriffsgeschichte innerhalb dieser Debatten gegenüber der Sozialgeschichte oft als subsidiär begriffen wurde, wäre im Rahmen einer eingehenden historischen Analyse zu beschreiben.
Im Gegensatz dazu zeigen die hier versammelten Artikel gerade durch die möglichst präzise und textnahe Erfassung ihrer Marerialien, wie diskursive Strategien – die nicht nur begrifflich sind – zu bestimmten Zeitpunkten in der Geschichte klassifikatorische Ordnungen durchziehen und so durch terminologische Differenzierungen das »Soziale« allererst herstellen und produzieren. So differenzieren die polizeylichen Technologien der Glückseligkeit liederliche soziale Charaktere und schaffen eine symbolische Topologie und Skalierung, in der vom Sabbatschänder über den Müßiggänger bis hin zu den Melancholikern eine in sich unterschiedene Bevölkerung im 18. Jahrhundert allererst auftauchen kann. (Neurath) In den Apodemiken des 16. Jahrhunderts – die einer gänzlich anderen Wissensordnung folgen – sind es neben den zu notierenden Professionen auch Fragen zu Erd-, Landes- und Ortsbeschreibung, zum Gemeinwesen, zur Religion und zur Geschichte, welche den Erfahrungsraum der Reisenden abstecken und so auf dem Weg in die Fremde das Andere konstituieren. (Katzmair) Aber auch im 19. Jahrhundert werden unterschiedlichste Redeweisen nur den fragwürdigen Versuch starten können, dem »Volk« eine Homogenität zu verleihen. Als Rätsel des – nicht nur – politischen Wissens entzieht sich das »Volk« sowohl den idealistischen als auch den materialistischen Zugriffen unterschiedlichster Diskurse und wird nur in Distanz zu seiner An- respektive Abwesenheit problematisierbar. (Rauchenschwandtner)
Daher und darüberhinaus ist auch auf den zutiefst antihistoristischen Aspekt und Effekt der hier vorliegenden Artikel zu verweisen, deren Schriftzüge vom Modus der Aktualität getragen werden, der ihnen ihre spezifische Rekkurenz verleiht: Die »Regierung« im Zeitalter der Vernunft zu untersuchen steht in direktem Verhältnis zur Fetischisierung technologischer Leistungsfähigkeit im gegenwärtigen »Kulturaustausch«. (Neurath) Den Soziotechniken von Quantifizierung und Soziologie im Rahmen der Neuzeit nachzugehen schärft den Blick für epistemologisch fragwürdige Soziologien der Gegenwart, welche die Frage nach ihren Möglichkeitsbedingungen nicht thematisieren. (Katzmair) Nach den Konstitutionen des »Volkes« zu fragen steht dabei je schon in der Spannung von Präsentation und Repräsentation eines kollektiven Handlungssubjekts und verweist somit mehrfach auf aktuelle Konstellationen des Politischen. (Rauchenschwandtner)
Historisch-epistemologisch und diskursanalytisch zu verfahren verbindet mithin historische Analyse mit einem gegenwärtigen Ausgangs- und Endpunkt. Es entreißt die genannten "Objekte« jeder ontologischen oder historistischen Begründungsfunktion, indem sie als wissenschaftliche – d. h. nicht natürliche – Gegenstände in zeiträumlichen Verschiebungen und Transformationen auftauchen, die anhand von positiven – wenngleich konstruierten – Textserien erläutert werden können. Damit werden homogene Rationalitätsansprüche und jedwede Ontologie aktualiter historisiert und erkenntniskritisch der Alltagserfahrung entrissen. Das Motiv einer Geschichte der Ontologie und der Seinsansprüche durchzieht auch das Interview mit Friedrich A. Kittler, das die Rolle diskursanalytischer Methode in verschiedenen Bereichen der Wissenschaftsgeschichte und insbesondere in jenem der Mediengeschichte thematisiert und dabei für die noch ausstehenden, wenngleich vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten dieses Verfahrens im Rahmen der Geschichtswissenschaft steht.
Wenn mithin die Artikel dieses Bandes an verschiedenen Stellen nahelegen, dass die jeweils diskutierten Wissensformen gerade dann, wenn ihre epistemologische Fragwürdigkeit gezeigt werden kann, den Charakter praktischer oder soziotechnischer Interventionen haben, so wird damit auch darauf verwiesen, inwiefern Diskussion und Anerkennung der hier vorgeschlagenen Methoden im Umkreis der Involvierung der Historiker in den Nationalsozialismus aber auch in den rezenten Diskussionen zu den Ereignissen rund um 1968 eine neuartige Perspektive eröffnen könnten, in der die Kritik nicht – wie geschehen – erneut auf jene kategorialen Systeme und politisch-moralischen Argumente zurückgreifen müsste, die ja gerade in Frage stehen. Dies würde allerdings voraussetzen, dass nach über dreißig Jahren sozialgeschichtlicher Diskursproduktion, die sich nur allzugern entlang der Grund-, Gründungs-und Begründungsbegriffe »Produktion«, »Materialität«, »soziale Wirklichkeit« und ),Oralität« mit Gesellschafts- und Ideologiekritik verband, eine historische Erkenntniskritik eben dieser historischen Grundbegriffe angegangen wird, die in den fortgeschrittensten Bereichen der Geschichtswissenschaft eine epistemologische und diskursanalytische Neuorientierung auslösen könnte, die bemerkenswerterweise um einiges historischer und um einiges kritischer wäre als die traditionellen Methoden, Begriffe und Ideologiekritiken der Sozialgeschichte. (Kö) Denn diese Gegenstandsbereiche, welche auch im Umkreis des historic turn(8) angepeilt werden, würden die Geschichte(n) des »Sozialen« umfassen, und könnten auch durch das Historisieren von Sozialgeschichte, Soziologie und Quantifizierung im Umkreis historischer Institute die eigenen Objektkonstruktionen samt den konstitutiven Kategoriensystemen in ihrer Geschichte in den Blick bringen, um danach die reflektierte Konstruktion von Objekten allererst zu ermöglichen. Dies könnte auch einen transdisziplinären Austauschrahmen etablieren, der den historischen Wissenschaften im Allgemeinen zu Gute käme. Dass die historiographische und intellektuelle Möglichkeit einer solchen Transformation der Geschichtswissenschaft gegenwärtig bereits besteht, davon zeugt auch der fächerübergreifende Charakter aller Beiträge dieses Bandes.
Alessandro Barberi, Wien
Anmerkungen
1) Vgl. Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der Erkenntnis, Frankfurt am Main 1987.
2)Vgl. Georges Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt am Main 1979. Zur weiteren Auseinandersetzung mit den hier vorgestellten Methoden vgl. Joseph Vogl, Einleitung, in: ders., Hg., Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, 7-16, und: Alessandro Barberi, CJio verwunde(r)t. Hayden White, Carlo Ginzburg und das Sprachproblem in der Geschichte, Wien 2000, 42-69.
3) Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1994.
4) Vgl. Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben, BerJin 1997.
5) Vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1990, und: ders., Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1991.
6) Vgl. Jean Pierre Faye, Totalitäre Sprachen. Kritik der narrativen Vernunft. Kritik der narrativen Ökonomie, Zwei Bände, Frankfurt am Main, BerJin u. Wien 1977.
7) Reinhard Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: ders., Hg., Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1978,19-36, hier: 19.
8) Vgl. Terrence J. McDonald, Hg., The Historie Turn in the Human Sciences, Michigan 1996.
Wolfgang Neurath
Regierungsmentalität und Policey. Technologien der Glückseligkeit im Zeitalter der Vernunft
Harald Katzmair
Ordnungen des Zählens. Zur quantitativen Konstruktion des Sozialen (1550-1870)
Hermann Rauchenschwandtner
Zur Konstitution politischer Subjekte im 19. Jahrhundert
Alessandro Barberi
Weil das Sein eine Geschichte hat. Interview mit Friedrich A. Kittler
Georg Kö
Die Paradoxien des Kulturbegriffes. Von der Geschichtswissenschaft und ihrer Historisierbarkeit