Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 10. Jg., Heft 3, 1999

"Das Jahr 2000 findet nicht statt"

"Das Jahr 2000 findet nicht statt". Läßt sich ein solcher Satz sagen? Noch dazu kurz vor jenem Zeitpunkt, zu dem weltweit das Jahr 2000 erwartet wird? Als eine kleine Broschüre aus der Feder des französischen Philosophen Jean Baudrillard mit diesem Titel 1990 bei Merve in Berlin erschien, wirkte der Satz jedenfalls als eine scharfe Provokation, die einerseits durch seine apodiktische Form
und andererseits durch seinen prima facie befremdlich erscheinenden Inhalt bedingt war. Baudrillard entwickelte im titelgebenden Essay anknüpfend an einen Aphorismus von Elias Canetti – wenigstens implizit – einen anspielungsreichen Überblick über die geschichtsphilosophischen Diskussionen der (Post-)Moderne. Mit Schlüsselbegriffen wie Simulation und Schlüsselkonzepten wie Beschleunigung entwickelte Baudrillard ein Szenario, das gewissermaßen quer ( queer?) zu Francis Fukuyamas Ende der Geschichte liegt. Bei Baudrillard würde die Zeit "schließlich in reiner Zirkulation aufgehen" – eine Denk-Aventiure außerhalb der umkehrbaren Zeit der Neutonischen Mechanik und der gerichteten Zeit der Thermodynamik. Die Geschichte, so Baudrillard, würde verschwinden und nicht etwa im Sinn der ,erfüllten Zeit‘ zu ihrem Ende gelangen. Unbemerkt verschwinden, an einem vanishing point.

Kurz nach diesem überaus reizvollen Entwurf aus der Mitte der achtziger Jahre steuerte Baudrillard ein weiteres – mehr oder minder komplementäres – Szenario bei, das durch und durch von den Wenden nach 1989 geprägt scheint: jenes von der Krümmung der Geschichte. Der Geschichts-Verlauf würde sich vor dem Ende des (dieses) Jahrhunderts zurück-krümmen, die Geschichte würde
"wie ein Tonband", das man rückwärts abspielt – erzeugt dies nicht häßliche Töne?- seinen Weg zum Jahrhundertbeginn zurücklegen und dabei sich selbst wieder zum Vorschein bringen müssen (einschließlich Nationalismen, Völkermord, um nur diese Beispiele zu geben).

Baudrillards rund zehn (und mehr) Jahre alten ironischen Entwürfe erscheinen mir gerade auch heute anregend und diskutierenswert: Sie stellen gesellschaftliche Geschichts- und Zeit-Konventionen – egal ob sie von ,Laien‘, von der philosophischen Tradition oder professionellen Historikern getragen werden – radikal in Frage und verweisen zugleich auf geschichtliche Prozesse selbst. Damit aber nicht genug: Baudrillards ironischer Vorschlag bestand 1990 darin, "die neunziger Jahre zu streichen, die nineties zu überspringen", um sogleich im nunmehr "geschichtslosen" 21. Jahrhundert zu landen. Nun, niemand scheint auf ihn gehört zu haben.

Wie bedauerlich: Ende der neunziger Jahre ist das Jahr "2000" mehrfach zum Problem geworden. Einem kleineren, aber nicht unwichtigen Teil dieser Probleme widmet sich dieses Heft.

Stuart Umpleby, Kybernetiker aus der Schule Heinz von Foersters und heute Management-Wissenschaftler, beschäftigt sich seit Jahren praktisch und theoretisch mit dem sogenannten Jahr-2000-Problem (Y2K-Problem), jenem multiplen Problem, das in (nicht nur) hoch-entwickelten Gesellschaften sozusagen aus "rein technischen" Gründen wahrscheinlich seine unheilvolle Wirksamkeit
entfalten wird. Neben einer Skizze der technikgeschichtlichen Hintergründe widmet sich Umpleby der Frage von Coping-Möglichkeiten, die sich ergeben haben. Zugleich enthüllt Umplebys Artikel Eine kurze Geschichte des Jahr 2000-Problems auch die "Torheit der Regierenden".

Karl H. Müllers umfangreicher Beitrag nimmt die Y2K-Problematik auf und verfolgt dabei eine noch viel weitreichendere Strategie, sie ins Soziale und ins Historische "einzubetten". Zunächst erläutert er die Genese des Problems über eine kurze Geschichte der (heutigen) Zeitmessung, die den ,Sieg‘ der westlich-christlichen Tradition als einen der Ausgangspunkte des Y2KProblems beschreibt. Sodann präsentiert Karl H. Müller eine neue Typologie gesellschaftlicher Entwicklungsstufen in einem evolutionstheoretischen Kontext. Der Sozialwissenschaftler Müller unterstellt eine idealtypische Abfolge, die von Darwin-Gesellschaften, über Polanyi-Gesellschaften und Piaget-Gesellschaften zu den gegenwärtigen Turing-Gesellschaften führt. Diese Gesellschaftstypen werden durch jeweils unterschiedliche Techniken und Modi der Wissens- und Informationsverarbeitung charakterisiert. Turing-Gesellschaften weisen, so entwickelt Müller sein Argument, als eine evolutionäre Kerneigenschaft eine Trennung von Wissensbasis und Oberflächen-Interaktionen auf. Zudem sei in ihnen – und darin bestehe vor allem das Neue – die Möglichkeit gegeben, direkt in den genetischen Pool einzugreifen. Erst in einer Turing-Gesellschaft mit ihren spezifisch ausgebildeten Netzwerken sind Probleme wie das Y2KProblem möglich und ubiquitär. Und so seien die brüchigen Zeit-Architekturen der Turing-Gesellschaften zu einem Basis-Problem gerade auch unserer Gesellschaft geworden.

Auch der Wissenschaftshistoriker Friedrich Stadler nimmt Y2K zum Ausgangspunkt seines Artikels und bemüht sich – in durchwegs skeptischer Weise um die mehr "mentalitäts"-historische Einbettung des Problems. Die Baudrillardsche "Hysterese des Millenniums" gerät unter seiner Hand zum "Millenniarismus". Stadlers an den gewohnten Millenarismus anknüpfender Neologismus
erlaubt ihm, über ein breites Spektrum (kultur-)pessimistischer Tendenzen im Kontext der Fin de Siècle malaise kritisch zu berichten.

Der einleitende Beitrag dieses Heftes Irrationale Motive und systemische Revolutionen im Zeitalter der Globalisierung, verfaßt vom Wiener Physiker Gerhard Grössing, schließt am allgemeinsten an die Zeitproblematik – auch in kritischer Auseinandersetzung mit Ideen Baudrillards – an. Er skizziert Entwicklungslinien der Konzeptionen des "Ich" von der Moderne bis zur Postmoderne und setzt sie in einen Kontext mit der Entwicklung naturwissenschaftlicher Weltbilder, der Globalisierung als gegenwärtigem Stadium des Kapitalismus und der Dynamik der Medien-Logiken. Die Virilasche ,Beschleunigung‘ wird auch hier zum Schlüsselbegriff. Grössings gleich mehrere große Bögen schlagender Artikel mündet schließlich in eine kritische Auseinandersetzung mit dem Philosophen Peter Sloterdijk.

Alle vier Artikel erweisen die Notwendigkeit, das Grundlagen-Problem "Zeit" unter Einbeziehung verschiedener Disziplinen und Ansätze neu zu thematisieren und diskutieren, auch wenn es das historische ,Alltagsgeschäft‘ gewöhnlich erlaubt, derartige Grundlagen-Probleme zu ignorieren. Für die nächsten Jahre plant die ÖZG eine Auseinandersetzung mit zirkulären und biomorphen
Zeitvorstellungen, wie sie beispielsweise Geschichts-Modellen a la Spengler, aber auch etwa den ökonomischen Konjunktur-Theorien zugrunde liegen. Dies verweist auf ein weiteres künftiges Thema: den unterschiedlichen Gebrauch des Zeitbegriffs across sciences and humanities. Die bekannte Debatte zwischen Albert Einstein und Henri Bergson gibt hierfür das ,klassische‘ Paradigma ab. Nicht zuletzt mit solchen Vorhaben soll der ,Geschichtsdiskurs‘ ein wenig über seine engeren disziplinären Grenzen hinausgeführt werden.

Noch ein Hinweis auf die beiden Forumbeiträge: Der Psychologe Karl Fallend beschäftigt sich mit dem KZ-Arzt Josef Mengele, genauer, mit einem Film, der sich fiktional mit dieser Symbol-Figur der NS-Gräuel auseinandersetzt, und präsentiert die daraus sich ergebenden Problemfelder als Thema der Vater-Sohn-Beziehung. Sohn und Vater Mengele werden von Fallend ebenso zum Thema
gemacht wie Sohn Götz George, Hauptdarsteller des Mengele-Films, und Vater Heinrich George, Hauptdarsteller in mehreren NS-Propagandafilmen.

Gabriella Hauch schließlich berichtet über letzte Entwicklungen in der neuen Militärgeschichtsforschung, ein Thema, dem in der ÖZG schon mehrmals Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Hauch berichtet unter anderem auch über die zunehmende Divergenz zwischen diskursanalytischen Ansätzen und klassischer neuerer Sozialgeschichte, eine Divergenz, die zum main cleavage der nächsten Jahre werden könnte.

Albert Müller, Wien

Inhalte

Gerhard Grössing
Irrationale Motive und systemische Revolutionen im
Zeitalter der Globalisierung

Stuart A. Umpleby
Eine kurze Geschichte des Jahr 2000-Problems

Karl H. Müller
Die brüchigen Zeit-Architekturen der Turing-Gesellschaften

Friedrich Stadler
,Y2K‘ – Millenniarismus zwischen digitaler und gesellschaftlicher Apokalyptik

Karl Fallend
Vom Gedanken zur Tat

Gabriella Hauch
Geschlechter Kriege

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