Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 9. Jg., Heft 3, 1998

Homosexualitäten

Seit den siebziger Jahren erfuhr die Geschichte der Homosexualität eine massive Politisierung. Angetrieben durch die schwule und lesbische Emanzipationsbewegung bildeten sich zwei Positionen: Vertreter des Essentialismus meinen, die gleichgeschlechtliche Begierde gehe – wie jede andere Form von Sexualität – auf eine natürliche Ursache zurück und sei damit dem Sozialen nur sekundär unterstellt. Konstruktivisten sehen in den Varianten sexuellen HandeIns sozial und kulturell bedingte und damit wandelbare Phänomene. Zur Untermauerung ihrer Standpunkte beriefen sich beide Seiten immer wieder auf historische Entwicklungen. Essentialisten holten dabei weit aus und verwiesen darauf, daß es homosexuelle Frauen und Männer bereits in der Antike und im Mittelalter gegeben hätte. Konstruktivisten sahen gerade in den historisch und sozial stark differierenden Identitäten und Erscheinungsformen gleichgeschlechtlicher Liebe und Sexualität eine Bestätigung ihrer Auffassung. Beide konstatierten, daß die Geschichtswissenschaft bislang wenig über die Ausbildung homosexueller Identitäten wisse. Sie erachten es deshalb als ihre zentrale politische Aufgabe, die auf Foucault zurückgehende Hypothese zu prüfen, die gleichgeschlechtliche Begierde habe sich von leiblicher Lust zu psychischer Eigenart entwickelt, aus der Tat sei also eine Identität geworden.

Die Beiträge dieses Heftes präsentieren diese Diskussion auf unterschiedliche Weise. Gert Hekma stellt in seinem weit ausholenden Überblick die Frage nach der Selbst- und Fremddefinition der gleichgeschlechtlichen Begierde von Männern in der europäischen Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Er zeigt, daß im Gegensatz zu den derzeit vorwiegenden homosexuellen Beziehungen, die reziprok und egalitär sind und Personen ähnlichen Alters und gleicher Geschlechtsidentität umfassen, in früheren Zeiten nach Alter und Geschlecht hierarchisierte Verhältnisse vorherrschten, vornehmlich in päderastischen Beziehungen und in solchen, bei denen ein Partner die ,normale‘ Geschlechterrolle ablegte und ins "dritte Geschlecht" wechselte. Der Differenz von sexueller Handlung und sexueller und geschlechtlicher Identität sowie der Frage, wann und wie sie zur Synthese gelangten, geht auch Randolph Trumbach im Interview nach. Die Mitherausgeber dieses Heftes, Gert Hekma und Harry Oosterhuis, diskutieren mit ihm seine provokante These, wonach eine explizite heterosexuelle Identität erst als Reaktion auf die Ausbildung einer homosexuellen Identität um 1700 entstanden sei.

Gleichgeschlechtliches Begehren und Handeln tauchen bereits in mittelalterlichen Textquellen auf, werden dort jedoch nicht expliziert. In seiner Analyse eines Basler Verhörprotokolls aus dem Jahr 1416 zeigt Helmut Puff, wie das Unbenennbare trotz strikter Sozial- und Sprechkontrolle in die Texte einfloß und wie eine genaue Interpretation dies erschließen kann. Harry Oosterhuis geht anhand der Fallgeschichten des Psychiaters und Sexualpathologen Richard von Krafft-Ebing der Frage nach, wie sich die autobiographischen Bekenntnisse der betroffenen "Perversen" und die psychiatrischen Krankheitskonstruktionen gegenseitig beeinflußten. In teilweisem Widerspruch zur vorherrschenden Meinung, das homosexuelle Subjekt sei ein Produkt des medizinischen Diskurses, belegt Oosterhuis, daß es zu einem bedeutenden Teil durch die Introspektion der Homosexuellen und deren Emanzipationsdiskurs konstruiert wurde.

Mediziner und Sexualwissenschaftler wurden bei der Konstruktion sexueller Subjekte in hohem Maß durch den zeitgenössischen Geschlechterbias beeinflußt – das demonstriert auch Geertje Mak an der Bildung des Begriffs "Transvestit" durch Magnus Hirschfeld. Der berühmte Sexualforscher hatte zwar in der medizinischen Praxis mehrmals mit Frauen in Männerkleidern zu tun, erklärte den Transvestiten aber unter Umgehung weiblicher Erfahrungswelten zu einem Mann, dessen angeblich weibliche Persönlichkeit im Drang nach andersgeschlechtlicher Verkleidung erkennbar wird. Wie die meisten frühen Sexualwissenschaftler trug Hirschfeld damit zur Umdeutung einer sozial devianten (sexuellen) Handlung in eine spezifische, scheinbar triebhaft gesteuerte Identität bei. Auch Strafgericht und Polizei konstruierten am homosexuellen Subjekts mit. Albert Müller und Christian Fleck untersuchen über zweitausend Gerichtsprozesse wegen Unzucht mit dem gleichen Geschlecht in Österreich von den dreißiger bis zur Mitte der fünfziger Jahre und kommen zu dem Schluß, daß es bislang zuwenig beachtete Traditionen in der Verfolgung von Homosexuellen gab. Homosexuelle Identität wurde vor Gericht vielfach erst geschaffen, Handlungen wurden oft erst dort zu einer psychischen ,Eigenart‘ verdichtet. Die Verfolgung von Frauen, weniger als fünf Prozent aller Fälle, unterschied sich deutlich von den Mustern, nach denen Männer belangt wurden.

Die Beiträge dieses Heftes zeigen, daß die Beziehungen zwischen sozialen Praktiken und Identitätsangeboten vielfältiger und komplexer waren als man lange Zeit glaubte und daß das homosexuelle Subjekt sowohl von den Betroffenen als auch von den professionellen Wahrheitsproduzenten konstruiert wurde. Angesichts dessen wird man bei der weiteren Erforschung des gleichgeschlechtlichen Begehrens jedenfalls nicht mehr von der Homosexualität sprechen können.

Franz X. Eder, Wien

Inhalte

Gert Hekma
Die Verfolgung der Männer. Gleichgeschlechtliche männliche Begierden und Praktiken in der europäischen Geschichte

Helmut Puff
Überlegungen zu einer Rhetorik der „unsprechlichen Sünde“. Ein Basler Verhörprotokoll aus dem Jahr 1416

Harry Oosterhuis
„Plato war doch gewiss kein Schweinehund“. Richard von Krafft-Ebing und die homosexuelle Identität

Geertje Mak
,Passing Women‘ im Sprechzimmer von Magnus Hirschfeld. Warum der Begriff „Transvestit“ nicht für Frauen in Männerkleidern eingeführt wurde

Albert Müller/Christian Fleck
,Unzucht wider die Natur‘. Gerichtliche Verfolgung der „Unzucht mit Personen gleichen Geschlechts“ in Österreich von den 1930er bis zu den 1950er Jahren

Randolph Trumbach
Die Entstehung der Homo- und der Heterosexuellen

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