Wenn hier ,Kulturen der Krankheit‘ zur Sprache kommen, ist nicht nur die grundlegende historisch-kulturelle Besonderheit von Krankheitserfahrungenzur Diskussion gestellt. Der Selbstverständlichkeit enthoben und der Befragung ausgesetzt wird hier auch die Konstituierung jenes spezifischen Wissens- und Praxiskomplexes in modernen westeuropäischen Gesellschaften, der unter der Ägide der Einfluß gewinnenden wissenschaftlichen Medizin sowohl den Körper des Einzelnen als auch den Gesellschaftskörper thematisch werden läßt. Für eine Sozialgeschichte, welche die hier ausgebildeten Sichtweisen, Institutionen und Praktiken zu fassen sucht, hat der Begriff der Medikalisierung der Gesellschaft (M. Foucault) wesentliche Bedeutung erlangt. Mit diesem "relativ jungen Neologismus", wie Jean Pierre Goubert noch 1982 bemerken konnte, eröffnete sich ein Feld, das die Verfahrensweisen der herkömmlichen Medizingeschichte als Fortschritts-, Entdeckungs- und Heroengeschichte hinter sich läßt. Gesundheit, Krankheit und Tod rücken als privilegiertes Feld von Herrschafts- und Machtausübung in den Blick. Der Entstehung einer spezifisch modernen ,Gesundheitsmentalität‘ und dessen, was heute ,Public Health‘ genannt wird, wird vor allem entlang einer bürgerlichen Setzung von Gesundheitsstandards, der Formierung öffentlicher Gesundheits- und Sozialpolitik und der Entfaltung des wissenschaftlich-klinischen Apparats nachgegangen.
Während sich die diesbezügliche Forschung in Frankreich eher zwischen Mentalitäten- und Wissenschaftsgeschichte positioniert, orientiert sie sich im deutschsprachigen Raum mehr an den Konzepten der Rationalisierung, der Disziplinierung und der Professionalisierung. Der wünschenswerte Brückenschlag zwischen einer Sozial- und Kulturgeschichte der Medizin und einer Wissenschaftsgeschichte scheint sich dabei nur zaghaft zu vollziehen.
Wenn die deutschsprachige Sozialgeschichte der Medizin von Disziplinierung spricht, so greift sie öfters – freilich meist implizit – auf das Medikalisierungskonzept Michel Foucaults zurück. Da dieses Konzept in keinem der in deutscher Sprache vorliegenden Bücher Foucaults im Detail ausgeführt ist, erschien es uns geboten, im vorliegenden Heft denjenigen Aufsatz erstmals in deutscher Sprache zu veröffentlichen, der vor mittlerweile zwanzig Jahren erschien und sich pointiert mit dem Prozeß der Medikalisierung auseinandersetzt. Bislang bereits leichter zugängliche Konzepte wie jene der Archäologie des ärztlichen Blicks, der Geburt der Klinik, der Medizinisierung des Sex oder der medizinischen Wissensformen und Institutionen in der Formierung neuzeitlicher Disziplinarregime werden hier um wesentliche Aussagen bereichert.
Die weiteren Beiträge dieses Hefts markieren Positionen gegenwärtiger Forschung. Der gesellschaftliche Umgang mit der Bedrohung der Pest im achtzehnten Jahrhundert wird von Ramón Reichert analysiert. In Pestordnungen und Pestpredigten findet sich die Entstehung eines Seuchendiskurses, der auf den fundamentalen Herausforderungscharakter der Epidemie antwortet. Dieser Diskurs problematisiert die traditionellen Vorstellungen von der Ordnung der Gesellschaft.
Günther Landsteiner und Wolfgang Neurath gehen der Tuberkulosebekämpfung des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts nach. Verschiebungen im medizinischen Wissen, die sowohl die Auffassung von der Tuberkulose als auch die neue Perspektivierung des ärztlichen Blicks betreffen, ergeben sich durch die Erfahrung mit den Volksheilstätten. Die Problematisierungen kreisen dabei um die Frage einer effizienten Regulierung einer von endemischen Krankheiten bedrohten Gesellschaft.
Michael Stolberg verfolgt anhand von Patientenbriefen des Schweizer Arztes Tissot das Verhältnis von ärztlichem Wissen und der Thematisierung von Krankheit durch Laien. Die individuelle Wahrnehmung physischer ebenso wie psychischer Veränderungen zeigt sich hier als selektiver Prozeß, der überwiegend durch vorherrschende Konzepte der medizinischen Krankheitslehren geprägt war. Die Durchsetzbarkeit der Krankheitskonzepte gegenüber dem bürgerlichen Publikum verweist zugleich auf ihre kulturelle Einbettung.
Eberhard Wolff zeigt in seinem Beitrag die wechselseitige Verbundenheit von Laienvorstellungen über das Wesen der Pocken und darauf bezogenen medizinischen Deutungsmustern. Sowohl die Prägung des Laienwissens durch von Ärzten vertretene Theorien als auch die Befruchtung der sich formierenden wissenschaftlichen Medizin durch Laienwissen machen deutlich, so der Autor, daß die Vorstellung von einer präexistenten, selbständigen ,Volksmedizin‘ unzutreffend ist.
Günther Landsteiner und Wolfgang Neurath, Wien
Michel Foucault
Die Politik der Gesundheit in 18. Jahrhundert
Ramón Reichert
Auf die Pest antwortet die Ordnung. Zur Genealogie der Regierungsmentalität 1700:1800
Günther Landsteiner/Wolfgang Neurath
Zur Regulation gefährdeten Lebens. Strategien und Modelle der Tuberkulosebekämpfung 1880-1910
Michael Stolberg
„Mein äskulapisches Orakel!“ Patientenbriefe als Quelle einer Kulturgeschichte der Krankheitserfahrung im 18. Jahrhundert
Franz X. Eder
Vom Staat, der Krankheit und den Geheimnissen des Lebens. Drei Publikationen zur Sexualitätsgeschichte