Als der amerikanische Historiker Vern L. Bullough zu Beginn der siebziger Jahre die Sexualitätsgeschichte zum "jungfräulichen Feld" (sic!) erklärte, konnte er nicht ahnen, daß es hier nur wenige Jahre später zu heftigen Auseinandersetzungen kommen würde. Grundlegende Begriffe, Kategorien und Konzepte der psychoanalytischen Theorie und der modernen Sexualwissenschaft sind im Zuge des Streits zwischen Vertreter/inne/n des Essentialismus und des sozialen Konstruktivismus in den letzten Jahrzehnten fragwürdig geworden.
Franz X. Eder rekonstruiert in seinem Beitrag die konkurrierenden Diskursstränge des Essentialismus und des sozialen Konstruktivismus und kommt zu dem Eindruck, daß diese Debatte an einem toten Punkt angelangt ist. Dennoch habe die radikale Kritik essentieller Entitäten wie etwa des ,Sexualtriebs‘ oder der ,Homo‘- und ,Heterosexualität‘ den Boden für eine Historisierung der sexuellen Orientierungen und Identitäten und des ,sexuellen Subjekts‘ bereitet.
Rezente Vorstellungen von Sexualität und von Männern und Frauen als sexuell bestimmten Akteuren gehen auf frühere Zeiten zurück. Maren Lorenz zeigt an ärztlichen Gutachten und juristischen Kommentaren des 18. Jahrhunderts zu Fällen von "Nothzucht", wie das sexuelle Verhältnis von Mann und Frau im gerichtsmedizinischen Diskurs nachhaltig naturalisiert worden ist. Nicht die damaligen naturwissenschaftlichen Kenntnisse, sondern die sozialen Normen einer von Männern beherrschten Gesellschaft und patriarchalische Mythen bestimmten die ärztlichen Gutachten und die Rechtssprechung und hielten sich über Generationen als autoritativ gesichertes ärztlich-juridisches Wissen.
Medizinische Spezialisten und ihr Diskurs über die ,pathologischen‘ Aspekte der Sexualität stehen auch im Mittelpunkt des Artikels von Günther Landsteiner und Wolfgang Neurath. Die Konstruktion der "Lungentuberkulose" zielte zur Jahrhundertwende darauf ab, den "Phthisiker" zu einem sich selbst und die Umwelt gefährdenden Subjekt zu stilisieren. Im Innersten des Patienten behaupteten die Mediziner eine scheinbar regellose und ausufernde, zur "Degeneration" neigende Sexualität. An Lungentuberkulose zu erkranken wurde als Chance angesehen, unter der Regentschaft des Arztes im Sonderraum des Sanatoriums zum Kern der eigenen Identität vorzudringen und die Rätsel des Selbst im Zeichen des Sexuellen zu dechiffrieren.
Die zwiespältige Einstellung der Nationalsozialisten zur Männerfreundschaft und Männerliebe sowie die Motive der Verfolgung von ,Homosexuellen‘ durch die Nationalsozialisten untersucht Harry Oosterhuis. ,Homosexuelle‘, so seine These, seien nicht deshalb Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik geworden, weil gleichgeschlechtliche Sexualität in der rassistischen Ideologie als ,entartet‘ gegolten hat. Die ,Homophobie‘ der Nazis sei vielmehr aus der problematischen Abgrenzung der homosozialen von den homoerotischen Männerbeziehungen und Männerbünden der Nationalsozialisten entstanden. Dieser Homophobie sei die Ansicht zugrundegelegen, ,Homosexualität‘ sei eine ansteckende soziale Krankheit, die sich in den Männerbünden der nationalsozialistischen Gesellschaft leicht ausbreiten und hier zur Infizierung der ,reinen‘ Kameradschaft führen könne.
Erstmals bringen wir in diesem Heft zwei Gespräche: Marie-Luise Angerer, Daniela Hammer-Thgendhat und Otto Penz diskutieren ,Geschlecht und Schönheit. Von der Renaissance zur Postmoderne‘ . Karl Stocker und Erika Thümmel sprechen mit Franz Innocenti über ,Wahre Liebe und Treue in der Postmoderne‘. Ersteren geht es vor allem um die Konstituierung eines Schönheitsdispositivs und um die Frage der Verbindlichkeit von Mode und Ästhetik für die gelebten Geschlechterbeziehungen seit dem Beginn der Neuzeit. Im zweiten Gespräch werden jüngste Bilder und Perspektiven der Sexualität bis hin zum Cyber-Sex debattiert. Es wird gefragt, inwieweit Moral- und Glücksvorstellungen der Moderne in den aktuellen Beziehungsdiskurs integriert oder durch eine neue Sex-Kultur, deren Imagination, ja Simulation immer offenkundiger wird, konterkariert werden.
Franz X. Eder
Franz X. Eder
Die Historisierung des sexuellen Subjekts
Maren Lorenz
Da der anfängliche Schmerz in Liebeshitze übergehen kann
Günther Landsteiner/Wolfgang Neurath
Krankheit als Auszeichnung eines geheimen Lebens
Harry Oosterhuis
Reinheit und Verfolgung
Daniela Hammer-Tugendhat/Otto Penz/Marie-Luise Angerer
Geschlecht und Schönheit. Von der Renaissance zur Postmoderne
Franz Innocenti/Karl Stocker/Erika Thümmel
Wahre Liebe und Treue in der Postmoderne
Werner Zips
Reise ins Schlaraffenland
Ernst Wangermann
Von den Hügeln der Kaledonier