Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 4. Jg., Heft 3, 1993

Klios Texte

Das in den USA seit Jahren vorhandene Interesse am literarischen Charakter historiographischer Texte fügt sich neuerdings auch in Europa in die Abkehr von der Hoffnung der Moderne, alles auf vernünftig-logische Weise in Sprache bändigen zu können. Die kritische Potenz des Dekonstruktivismus steht nun – nach Philosophie und Literaturwissenschaft – auch in der Geschichtswissenschaft zur Diskussion.

Vladimir Biti diskutiert in seinem Beitrag die von Hayden White, Dominik LaCapra, Michel Foucault u.a. vertretene Auffassung, Geschichtsschreibung sei Textproduktion, und wie jede andere Art von Texten seien auch Klios Texte zeit-, standort- und ideologiegebunden. Aus diesem generellen Befund könne jedoch nicht – wie von White – geschlossen werden, es gebe keinen relevanten Unterschied zwischen literarischen und historiographischen Texten. Historiker wie LaCapra oder Geschichtsphilosophen wie Frank Ankersmit (siehe das Interview in diesem Heft) bestehen auf der Pflicht der Historiker/innen, die Lektüre der Quellentexte und die Verfassung ihrer eigenen historiographischen Texte an einen wissenschaftsspezifischen, kognitiven Anspruch zu binden. Ankersmit beharrt zudem auf der Unterscheidung zwischen den Texten auf der Objektebene, den Quellentexten, und den Texten auf der Metaebene, den historiographischen Texten. Zwischen diesen Ebenen bestehe eine epistemische Kluft, die sich aus der analytischen Haltung des Historikers gegenüber seinen Quellentexten ergebe.

Nach LaCapras Auffassung wurzelt die Bedeutung des Textes nicht in den diskursiven Praktiken (wie bei Foucault), sondern in der vorausliegenden Erfahrung eines Geschehens selbst, auf das sich der Text bezieht. Damit wird die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug eines Textes – bei White irrelevant geworden – wieder gestellt. Die historische Wahrheit eines Textes liegt in seiner Perspektivität. Kein Autor repräsentiert alle möglichen Perspektiven auf das von ihm besprochene Objekt. Seine Herkunft, seine Bildung, seine Leseerfahrung, seine wissenschaftliche Sozialisation und seine alltäglichen Beziehungen bestimmen die ihm mögliche Perspektive. Daraus folgt für LaCapra (in Differenz zu Hayden White und Paul de Man), daß es unsinnig sei, der Historiographie ihren rhetorischen Charakter vorzuwerfen. Es gebe keine Wahrheit der Historie außerhalb der Geschichte.

Der rhetorische Charakter der Historiographie ergibt sich aber nicht nur – so lesen wir bei Vladimir Biti weiter – aus der Perspektivität des Blicks ,zurück‘, sondern auch aus dem imaginierten Dialog der Historiker/innen mit ihren künftigen Leser/inne/n, die sie überzeugen, beeindrucken, belehren oder bekehren wollen. Die rhetorische Überzeugungskraft des Textes konstituiert sich ebenfalls nur innerhalb der Geschichte. – Dies belegt in diesem Heft Hans-Jürgen Lüsebrinks Analyse der Texte des mexikanischen Dominikanerpaters Fray Servando, der zu Anfang des 19. Jahrhunderts eine Gegengeschichtsschreibung entwarf, die sich gegen die europäische, insbesondere spanische Geschichtsschreibung und gegen den von ihr legitimierten Herrschafts- und Missionsanspruch Spaniens in Mexiko richtete. – Der historiographische Text, so läßt sich daran erkennen, wird innerhalb der Geschichte produziert, und er wirkt nur innerhalb der Geschichte. Er ist also auf diese doppelte Weise historisch kontingent. Daraus hat LaCapra im Anschluß an White und an Derrida den methodischen Vorschlag entwickelt, Historiker/innen sollten die von ihnen zu interpretierenden Texte so weit in ihrer Gestalt auflösen (dekonstruieren), bis ihre Gestaltung erkennbar wird. Eine Form oder ein Schritt der Dekonstruktion ist die Identifikation der sprachlichen Bilder (Tropen), wie sie schon im 18. Jahrhundert von Giambattista Vico und in den 1970er Jahren von Hayden White vorgeschlagen worden ist. Irmgard Wagner wendet in ihrem Beitrag das Verfahren
der tropologischen Analyse an Henry Adams Education, einem klassischen Text der US-amerikanischen Geschichtsschreibung, an. Dabei zeigt sich, daß die tropologische Analyse vor allem dann fruchtbar ist, wenn es gelingt, den Wechsel zwischen verschiedenen Tropen in einem Werk als Indikator für einen Einstellungs- oder Erfahrungswechsel des Autors zu deuten.

Hayden White begründet die tropologische Analyse anders als LaCapra und anders als Vico. Er schlägt sie als eine strukturalistische Methode vor, um – unterhalb der bewußten Motive der Historiker/innen – einer angenommenen, vorrationalen Tiefenstruktur ihrer Sprachbilder auf die Spur zu kommen. Im Unterschied zu Vico, LaCapra oder Ankersmit sieht White in den Tropen der Historiker/innen nicht den sprachlichen Ausdruck ihres wissenschaftlichen Denkens, sondern dessen präkognitives und vorrationales, rein poetisches Fundament. Herta Nagl-Docekal kritisiert in ihrem Beitrag dieses Konzept einer ,Meta-Geschichte‘, in dem die nach ästhetischen und/oder moralischen Gesichtspunkten gewählten Tropen als ein Gefängnis des historischen Denkens erscheinen.

Hayden White betrachtet die Ironie als jene Trope, in der wir unsere Skepsis darüber auszudrücken vermögen, daß Wahrheit angemessen in Sprache zu fassen wäre. Der niederländische Geschichtsphilosoph Frank Ankersmit hingegen hält das Paradoxon für die Trope der Postmoderne. Es stelle sprach-logisch Unvereinbares nebeneinander und verweise so unerbittlich auf die Wirklichkeiten, die sich dem Logozentrismus der Moderne nicht fügen. Das Paradoxon sei insbesondere jene Trope, in der sich – etwa in der Mentalitäts-und Alltagsgeschichte – am ehesten über die widersprüchlichen historischen Erfahrungen sprechen lasse; und das Interesse an Erfahrungen sei in einer umbrüchigen Welt besonders groß. Allerdings stelle sich die Frage, wie die Erfahrungen der Subjekte in die Texte einer der Wahrheitsfindung verpflichteten Geschichtswissenschaft aufgenommen werden könnten. Diesem Problem widmet sich auch Ralf Possekel in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Jörn Rüsen, der in seiner Historik das Problem der historischen Erfahrung als Differenz von Absicht und Wirkung in der Zeit faßt und in der "narrativen Erklärung" die adäquate Aussageform über Erfahrungen in systemischen Veränderungen gefunden zu haben meint.

Das didaktische Projekt der modernen Historiographie war (und ist) es, durch die forschende Beschäftigung mit der Vergangenheit Identität zu stiften. Frank Ankersmit hält dem entgegen, daß geschichtswissenschaftliche Forschung keineswegs Identität sichere, sondern – anders als das ,naive‘ historische Bewußtsein im Alltag – unausgesetzte Zersplitterung bedeute; ein ,Ursprung‘ im Sinne eines Anfangs, aus dem sich Identität und Sicherheit gewinnen ließen, sei nicht zu finden, vielmehr eine Proliferation der Ursprünge. Zu diesem Schluß gelangten zuvor schon Heidegger, Foucault und Derrida, wie Hugh J. Silverman in seinem Beitrag zeigt.

Der Streit um den Textcharakter der Historie ist – wie jeder wissenschaftliche Streit – immer auch ein Streit um die Stellung des einzelnen Forschers im Feld der Geschichtswissenschaft und um die Reputation der gesamten Zunft in der Konkurrenz der Wissenschaften. Karin MacHardy untersucht den Stil und die Logik der Argumente, die dabei benutzt werden. Die Abgrenzung der Exponenten erscheint ihr zuweilen künstlich und überdeterminiert; der häufige Gebrauch von Invektiven, Wertungen und binären Oppositionen diene dazu, den Gegner zu diskreditieren und das eigene symbolische Kapital im Feld der Wissenschaft zu erhöhen. Wolfgang Bialas beginnt seinen Aufsatz über das Verhältnis von Kritischer Theorie und Postmoderne ganz in der von MacHardy beschriebenen Logik. Entgegen anderen Analytikern der Postmoderne (wie Wolfgang Welsch) behauptet er – Postmoderne und Posthistoire gleichsetzend – die Postmoderne verkünde nicht nur das Ende der großen Metaerzählungen, sondern auch das Ende der Geschichte und verliere sich in "tiefgeistelnde Sprachspiele" , anstatt sich gesellschaftspolitisch zu engagieren. Umso spannender ist es dann zu lesen, wie sich der von Bialas unternommene Versuch, die Kritische Theorie neu zu bestimmen, und zentrale Thesen postmoderner Autor/inn/en keineswegs immer auszuschließen scheinen.

Ulrike Döcker, Reinhard Sieder

Inhalte

Karin J. MacHardy
Geschichtsschreibung im Brennpunkt postmoderner Kritik

Vladimir Biti
Geschichte als Literatur – Literatur als Geschichte?

Irmgard Wagner
Tropologische Analyse eines klassischen Texts

Hans-Jürgen Lüsebrink
Synkretistische Fiktion als Gegengeschichtsschreibung

Wolfgang Bialas
Kritische Theorie der Postmoderne?

Frank Ankersmit
Wir schauen in einen Spiegel und sehen einen Anderen

Herta Nagl-Docekal
Läßt sich die Geschichtsphilosophie tropologisch fundieren?

Ralf Possekel
Die Widersprüche der Geschichtswissenschaft

Hugh J. Silverman
Foucault/Derrida -Ursprünge der Geschichte

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