Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 10. Jg., Heft 2, 1999

Im Osten nichts Neues?

Viele Länder Mittel- und Osteuropas erlebten in den Jahren nach der Wende 1989 die Wiederkehr längst totgeglaubter historischer Debatten. In den neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas wurden die Topoi nationaler Geschichtsschreibung zu heiß umkämpften Themen der politischen Diskussion. Einerseits galt es die Geschichte der Nachkriegszeit neu zu schreiben, andererseits mußten die einst als reaktionär und konterrevolutionär verdammten Diskurse des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts auf ihre Tauglichkeit überprüft werden. Und schließlich konnte man, wie die populistischen Politiker der verschiedensten Couleurs schnell erkannten, mit den Versatzstücken der nationalen Geschichtsschreibung vorzüglich Wähler gewinnen.

Die Historiker sahen sich großen Herausforderungen gegenüber, galt es doch die Geschichte eines halben Erdteils neu zu schreiben. Wie selten in einer historischen Epoche war sich die Mehrheit der Bevölkerung mit den Historikern einig, daß es dringend einer neuen nationalen Geschichte bedurfte. Historische Expertise war gefragt und zahlreiche Historiker wurden zu tonangebenden Beratern
der führenden politischen Köpfe, wenn nicht zu führenden Politikern selbst, wie Präsident Franjo Tudjman in Kroatien oder Ministerpräsident Jozsef Antal in Ungarn. In dem Maße aber, in dem die Geschichte zum nationalen Projekt und zum Objekt tagespolitischer Debatten wurde, sahen sich die Historiker mit einem Dilemma konfrontiert. Waren diese Anforderungen der wissenschaftlichen Forschung vereinbar mit jenen Anforderungen, die sich aus der Bindung an ein nationales Programm ergaben? Viele Historiker sahen sich nach der Vorlage neuerer Forschungen zu wenig bekannten Kapiteln der nationalen Geschichte mit beißender öffentlicher Kritik konfrontiert, andere wiederum flüchteten in sichere, das heißt politisch nicht umkämpfte Themenbereiche. In seinem Beitrag hat György Kövér diese Diskussionen für Ungarn exemplarisch nachgezeichnet.

Ein Beispiel für die Neubewertung der nationalen Historiographie hat der rumänische Historiker Lucian Boia in den letzten Jahren vorgelegt. Lange Zeit beruftich marginalisiert, weckte er mit seinen panoramaartigen Überblicken bald das Interesse der einheimischen Kollegenschaft und der internationalen Fachwelt. Seine hier vorgelegte Arbeit über die wechselseitigen Beziehungen
zwischen Geschichte, nationalen Mythen und Ideologien zeichnet nach, wie im Interesse einer Annäherung an Westeuropa die politischen Eliten Rumäniens im neunzehnten Jahrhundert verschiedene historische Diskurse kreierten, mit deren Hilfe sie die Zugehörigkeit Rumäniens zu einer westeuropäischen Kulturtradition beweisen wollten. In diesem Rahmen entstanden zahlreiche bis heute noch fortwirkende, durch wissenschaftliche Forschung nicht begründbare und oft auch schon widerlegte Topoi der rumänischen Nationalgeschichte, wie etwa der Mythos von der Kontinuität zwischen römischen Kolonen des dritten nachchristlichen Jahrhunderts und der bäuerlichen rumänischen Bevölkerung der Neuzeit.

Welche sozialen und politischen Funktionen nationale Mythen im Kontext von Klassenbildung und nationaler Identitätsfindung spielen, demonstriert Gerald Sprengnagel in seinem Artikel über die ,Selbsterschaffung‘ des tschechischen Bürgertums in einer mährischen Provinzstadt. Anhand des Bücherbestands eines patriotischen Lesevereins zeigt er, wie diese Mythen angeeignet, transformiert und für die Legitimationsbedürfnisse der jeweiligen Gegenwart adaptiert werden. Die Aneignung dieser Elemente einer ,nationalen Kultur‘
grenzt die tschechischen ,Patrioten‘ nicht nur von der hegemonialen deutschen Kultur ab, sondern gleichzeitig von den tschechischsprachigen Unterschichten – sie erfinden sich als Bürgertum.

Die Funktion historischer Themen in den politischen Diskussionen der letzten zehn Jahre und die Bedeutung historischer Rekurse für die Konstituierung der neuen politischen Systeme beleuchten die Beiträge von Éva Kovács und Davor Mišković. Für Ungarn beschreibt Èva Kovács, wie liberale Gruppierungen bereits vor 1989 nationale Symbole der Revolutionen von 1848 und 1956 für
die Legitimierung ihrer Forderungen und Positionen instrumentalisierten und dadurch unter anderem zu einem Abrücken klerikalkonservativer Kreise von den Traditionen der Revolution 1956 beitrugen. Die Schließung des berühmten Budapester "56er Institutes" durch die konservative Regierung Viktor Orbáns steht exemplarisch für diese Entwicklung. Davor Mišković analysiert in seinem Essay den Kult rund um den kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman, dessen Stilisierung zum mythischen Kulminationspunkt einer tausendjährigen kroatischen Geschichte weitreichende Folgen für die ausbleibende Demokratisierung vielfältiger Bereiche des öffentlichen Lebens nach sich zieht.

Die Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung der gesellschaftlichen Realität der Reformstaaten wird jedoch nicht nur durch die lokalen politischen und historischen Diskussionen, sondern massiv durch die internationalen, medial vermittelten Auseinandersetzungen beeinflußt. Am Beispiel der Bevölkerungspolitik Rumäniens während der Ceauşescu-Diktatur und ihrer medialen Ausschlachtung
durch die Bildmedien nach 1989 demonstriert Attila Melegh das Zusammenspiel wissenschaftlicher Theoriestränge und medial vermittelter Diskurse.

Gerhard Baumgartner, Wien

Inhalte

Lucian Boia
Eintritt nach Europa. Geschichte, Ideologie und Mythologie im Rumänien des neunzehnten Jahrhunderts

Éva Kovács
Mythen und Rituale des ungarischen Systemwechsels

Gerhard Baumgartner
Einfach weg. Zum ,Verschwinden‘ der Romasiedlungen des Burgenlandes 1938-1945

Gerald Sprengnagel
Nationale Kultur und die Selbsterschaffung des Bürgertums. Am Beispiel der Stadt Prostějov in Mähren 1848-1864

Antoni Mączak, Gerhard Baumgartner, Erich Landsteiner, Albert Müller
Patrone, Klienten und einige andere Fragen des sozialen Lebens

Attila Melegh
Haus des Horrors? Demographie und Politik in Rumänien

Davor Mišković
Zur Struktur kroatischer Märchen

György Kövér
Der István Hajnal-Kreis

Alois Ecker
Wohin treibt die Geschichte ohne Histomat? Zur Reform des Geschichtsunterrichts in Ost- und Südosteuropa

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