Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 9. Jg., Heft 2, 1998

Forschungsberichte

Wie in anderen Geistes- und Sozialwissenschaften geht es auch in den Geschichtswissenschaften nicht nur darum, die weißen Flecken des bislang Unerforschten durch die Formulierung der "historischen Frage", die Suche nach Material und dessen Kritik, Interpretation und Analyse zu tilgen, sondern auch bereits formulierte Deutungen einer abermaligen Lektüre zu unterziehen. Dabei zeigt sich immer aufs Neue, daß ihre Lesarten trotz aller zunehmenden Diszipliniertheit vom Standpunkt der Autoren in der Episteme ihrer Zeit abhängig sind. Sigrid Wadauer versucht eine Reinterpretation der Wanderschaft der Handwerksgesellen. War sie in der älteren Literatur als eine Regel der zünftigen Verfassung des Handwerks in der frühen Neuzeit gedeutet worden, die den Gesellen aus der Raison des Kollektivs und obrigkeitlicher Instanzen aufgezwungen wurde, zeigt die genaue Lektüre von autobiographischen Texten durchaus verschiedene Praktiken der wandernden Gesellen, einen variantenreichen "Gebrauch der Fremde": Eigensinnig und stolz, listig und ironisch, zuweilen auch resignativ sehen sich die Handwerksgesellen nicht nur als gleichgeschaltetes Objekt der Zunfttradition und Gruppenkultur, sondern auch als individuelle Akteure ihrer Geschichte, die das Gegebene keineswegs immer fraglos hinzunehmen bereit sind.

Gerhard Benetka untersucht die personelle Situation der akademischen Psychologie nach der Befreiung Österreichs vom Nazi-Regime. Weil die aus politischen und rassischen Gründen vertriebenen Psycholog/inn/en nach 1945 nicht mehr in das Land zurückgeholt wurden, konnte das Universitätsfach nur wieder aufgebaut werden, indem ehemalige Mitglieder der NSDAP wieder als akademische Lehrer/innen und Forscher/innen eingestellt wurden. Bis auf Hubert Rohracher und Theodor Erismann waren alle Psychologen, die das Fach im Dritten Reich an österreichischen Universitäten vertreten hatten, ,politisch belastet‘. An der Person des langjährigen Wiener Ordinarius Hubert Rohracher vermag der Autor aber auch zu zeigen, wie dessen prominente Beteiligung an der sogenannten Entnazifizierung der Hochschulen dazu genutzt werden konnte, fachpolitische Interessen durchzusetzen. Die ÖZG nimmt damit neuerlich ein Thema der jüngeren Wissenschaftsgeschichte auf, und die Herausgeber/innen hoffen, darüber das immer noch bestehende eklatante Defizit an Wissenschaftsgeschichte bewußter zu machen.

Till van Rahden untersucht den Breslauer Antisemitismus im Kaiserreich. Seine Prämisse ist, daß grundsätzlich zwischen antisemitischer Gesinnung und Rede und antisemitisch motivierten politischen Taten zu unterscheiden sei. Daher sei empirisch-historisch zu untersuchen, an welcher Stelle und unter welchen Bedingungen antisemitische Gesinnung in folgenreiche Handlungen umschlage. Sein Untersuchungsfeld bildet die Kommunalpolitik in Breslau, im 19. Jahrhundert lange Zeit die zweitgrößte Stadt Preußens. Während Antisemiten auf der Ebene staatlicher Politik in Preußen ihre Forderung nach Beschränkung der Zuwanderung von Juden durchsetzen konnten, scheiterten antisemitische Kommunalpolitiker in Breslau u. a. mit ihrem Versuch, jüdische Lehrer von der Berufsausübung auszuschließen, weil sie es nicht vermochten, ihren Rassismus in der pragmatischen, als ,apolitisch‘ gedeuteten, an Kriterien des ,Gemeinwohls‘ orientierten Kommunalpolitik handlungswirksam werden zu lassen.

Im ersten der beiden Gespräche, die wir in diesem Heft veröffentlichen, vertritt Hayden White die Meinung, die gängigen Formen, in denen die Geschichtswissenschaftler publizieren, seien angesichts der neuen Medien und ihrer Rezeption ein "antiquiertes Unternehmen". Die Historie leiste sich immer noch, was sich die Literatur schon seit Brecht nicht mehr leiste: die Illusionen der Realität und der Kausalität. In abgeklärter Ironie formuliert er: Geschichte wird nicht gelebt, sondern erzählt.
Im zweiten Gespräch reflektiert der Anthropologe Eric R. Wolf seine intellektuelle Entwicklung und begründet die sein Lebenswerk durchziehende These, daß Anthropologie ohne Geschichte nicht auskommen könne. Historisch-materialistisches Denken habe ihn zu ethnohistorischem Fragen und Forschen angeregt, das zuletzt in der These kristallisierte, die verbreitete Vorstellung von "geschichtslosen primitiven Völkern" sei das Fehlurteil einer eurozentrischen Wissenschaft.

Immanuel Wallersteins Reflexionen zum prekären Status der Geschichtswissenschaften zwischen harter "science" und weicher Geisteswissenschaft und Daniel Unowskys Forschungsbericht über den imperialen Kult um Kaiser Franz Joseph füllen das Forum dieses Hefts.

Reinhard Sieder, Wien

Inhalte

Sigrid Wadauer
Der Gebrauch der Fremde. Wanderschaft in der Autobiographik von Handwerkern

Gerhard Benetka
Entnazifizierung und verhinderte Rückkehr.Zur personellen Situation der akademischen Psychologie in Österreich nach 1945

Till van Rahden
Sprechen und Handeln im Breslauer Antisemitismus des Kaiserreichs

Hayden White
Ich glaube nicht, daß eine Theorie wie meine dazu da ist, angewandt zu werden

Eric R. Wolf
Anthropologie und Geschichte

Immanuel Wallerstein
Die Geschichte auf der Suche nach der Wissenschaft

Daniel Unowsky
Creating Patriotism. Imperial Celebrations and the Cult of Franz Joseph

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