Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 8. Jg, Heft 2, 1997

leibhaft

leibhaft

Mit Themen wie Sexualität, Gesundheit, Körperhygiene und Ernährung rückten ,Leib‘ und ,Körper‘ in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum in den Blick der historischen Forschung. Dabei wurde insbesondere ihre Funktion innerhalb der ,Biopolitik‘ (Michel Foucault) – der normalisierenden und normierenden Aspekte einer "zweckorientierten Verbesserung des Lebens" – analysiert und ihre Bedeutung für die Regulierung und Disziplinierung untersucht.

Mehr als auf die Materialität der Leiber konzentrieren sich auch die hier abgedruckten Aufsätze auf die Entstehung und die Funktion des Wissens über sie; ein Wissen, das in unterschiedlichsten Diskursen entstand und zum Wandel der imaginären und symbolischen Dimensionen des Körpers genauso beitrug wie zu Körperbildern und Körpertheorien. Letztlich vereint die vorliegenden Beiträge die Frage nach der Funktion der ,Körper‘ für gesellschaftliche Systeme.

Es liegt nahe, diese Fragestellung zunächst selbstreflexiv auf die historischen Wissenschaften zu beziehen: Die Philosophin Elisabeth List eröffnet das Heft; indem sie zeigt, wie die Produktion von Wissen über den Körper die Geschichtswissenschaften verändert und welche Entwicklungen in den Kulturwissenschaften die Anerkennung der Leibgebundenheit als konstitutives Moment des Handelns bedingen.

Die beiden folgenden Aufsätze thematisieren Körperdiskurse als Instrumente der Alterisierung. Sie beobachten, wie gesellschaftliche Ausgrenzung immer wieder auf Behauptungen über eine differente Beschaffenheit von Körpern gegründet wird. Barbara Hey untersucht, wie um die letzte Jahrhundertwende Erörterungen über Fremdheit diese als mit Primitivität konnotierte Rückständigkeit deuten, indem insbesondere der weibliche Körper zum Angelpunkt für Diskurse über kulturelle Überlegenheit und ethnische und rass(ist)ische Unterscheidungen wird. Klaus Hödl stellt dar, wie die Körper "der Juden" über Jahrhunderte hinweg mit Krankheiten, welche als der Inbegriff des "Andersseins" galten, in Verbindung gebracht wurden. Vor allem die Haut wurde zum Medium, an dem sich die ihnen zugeschriebene pathologische Differenz scheinbar manifestierte.

Marie-Luise Angerer verfolgt am Beispiel des Blicks den historischen Wandel der Bedeutung des Körpers für die Konstitution des Subjekts durch bildhafte Erinnerungen. Sie spannt einen Bogen vom Camera-obscura-Modell der Wahrnehmung, das die Renaissance hervorgebracht hat, über die mit dem frühen 19. Jahrhundert einsetzende Aufwertung des Körpers als Wahrnehmung und Sinn strukturierendes Medium bis hin zu einer Re-Abstraktion des Blicks durch die Neuen Technologien.

Im Forum behandeln zwei Beiträge die Verankerung von spezifischen Körpervorstellungen im Bewußtsein breiterer Bevölkerungskreise. Barbara Duden setzt sich mit der medizinischen Deutung des menschlichen Organismus als Immunsystem auseinander und macht deutlich, in welchem Maße dieses wissenschaftlich generierte Wissen in die subjektive Leiberfahrung Eingang findet. Sabina Brändli zeichnet nach, wie sich Normvorstellungen über den männlichen Körper in der Trivialliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts niederschlagen.

Der dritte Forum-Beitrag ist eine kritische Replik auf das dem Konstruktivismus in den Geschichtswissenschaften gewidmete Heft 1997/1 dieser Zeitschrift. Paul Hoyningen-Huene formuliert seine Zweifel am Nutzen einer radikal konstruktivistischen Position für jene Bereiche der Humanwissenschaften, die sich vorwiegend mit Bewußtseins- und Erinnerungsinhalten befassen.

Die Publikation Hitler’s Willing Executioners von Daniel Jonah Goldhagen wird in Deutschland sehr intensiv und kontrovers diskutiert. Im Interview-Teil dieses Heftes bringen wir ein Gespräch Thomas Sandkühlers mit einem der profiliertesten Exponenten der Holocaustforschung, Christopher Browning, über Goldhagens Werk und über die Holocaustforschung in den USA und in Europa.

Barbara Hey und Klaus Hödl, Graz

Inhalte

Elisabeth List
Der Körper (in) der Geschichte. Theoretische Fragen an einen Paradigmenwandel

Barbara Hey
Vom ,dunklen Kontinent‘ zur ,anschmiegsamen Exotin‘

Klaus Hödl
Der ‚jüdische Körper‘ als Stigma

Marie-Luise Angerer
Screening the Body: Zur medialen Materialität des Körpers

Christopher Browning
„Eine anti-akademische Attacke“. Holocaust-Forschung und Goldhagen-Affäre

Barbara Duden
Das „System“ unter der Haut. Anmerkungen zum körpergeschichtlichen Bruch der 1990er Jahre

Sabina Brändli
„Die unbeschreibliche Beherrschung und Ruhe in Haltung und Geberden“ . Körperbilder des bürgerlichen Mannes im 19. Jahrhundert

Paul Hoyningen-Huene
Bemerkungen zum Konstruktivismus in der Geschichtswissenschaft

Karl H. Müller
Bemerkungen zu Bemerkungen

Ihre Vorteile:
Versandkosten
Wir liefern kostenlos ab EUR 50,- Bestellwert in die EU und die Schweiz.
Zahlungsarten
Wir akzeptieren Kreditkarte, PayPal, Sofortüberweisung