Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7. Jg., Heft 2, 1996

Formalisierung der Welt

Formalisierung der Welt

1935 hielt Edmund Husserl in Wien einen Vortrag unter dem Titel Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie. Husserl hat nicht exakt zum Ausdruck gebracht, was denn nun, in der Zeit der nationalsozialistischen Machteroberung und latenten Kriegsstimmung, diese Krisis sei, doch er hat zum Thema gemacht, was der erstmaligen Erfahrung einer unterbrochenen Entwicklung und der davon ausgehenden Erschütterung der mentalen Strukturen zugrunde lag. Die europäische Philosophie, argumentierte Husserl, habe das Problem der Wahrheit in die Unendlichkeit verlegt. "Die Unendlichkeit wird entdeckt, und zuerst in Form der Idealisierung der Größen, der Maße, der Zahlen, der Figuren, der Geraden, der Pole, Flächen usw. Die Natur, der Raum, die Zeit werden ins Unendliche idealiter erstreckbar und ins Unendliche idealiter teilbar. Aus der Feldmeßkunst wird die Geometrie, aus der Zahlenkunst die Arithmetik, aus der Alltagsmechanik die mathematische Mechanik usw. Nun verwandelt sich, ohne daß ausdrücklich eine Hypothese daraus gemacht wird, die anschauliche Natur und Welt in eine mathematische Welt, die Welt der mathematischen Naturwissenschaften."

Die Mathematisierung der Welt wurde hier nicht zum ersten und letzten Mal zum Gegenstand der historischen Betrachtung und Kritik. Die Kritik am neuzeitlichen kartesianischen Weltverständnis gehört vielmehr zu den großen Themen historiographischer und soziologischer Tradition im 20. Jahrhundert, man denke nur an Oswald Spengler, Martin Heidegger oder, bei aller Gegensätzlichkeit zu den beiden konservativen Theoretikern der Moderne, an Max Horkheimer und Theodor Adorno und ihre Dialektik der Aufklärung. Husserl forderte, die Wissenschaft müsse sich selbst beobachten. (Allerdings zieht dies den Einwand nach sich, daß Husserls Kritik, so wie sie oben wiedergegeben wurde, die Binnendebatte der Mathematiker über den objektiven oder den intentionalen Charakter der Mathematik, über die Geschlossenheit oder Offenheit sowie die Widerspruchsfreiheit des bedeutungsfreien Zeichensystems nicht reflektiert hat; ebensowenig zwingend ist es, eine Genealogie von der Geometrie, die recht eigentlich ein ,bildhaftes‘ Denken war, zur reinen Mathematik anzunehmen. Für die Historiographie ist aber, unabhängig von solchen immanenten Einwürfen, die Suche nach einem ,richtigen‘ bzw. ,falschen‘ Bewußtsein hinter dem formalen Denken richtungweisend geblieben.) Dieses Programm ist in den letzten zwei, drei Jahrzehnten in der Wissenschaftsgeschichte äußerst fruchtbar aufgenommen worden, aber in einer ganz anderen Richtung, als sie der von der Phänomenologie inspirierte Positivismusstreit zunächst einschlug. Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte, oder sagen wir mit der angezeigten Bescheidenheit besser: einige Denkrichtungen, die für die Historiographie neue Möglichkeiten schaffen, haben begonnen, die Formalisierungsprozesse und deren Rückwirkungen nicht mehr nur ontologisch zu betrachten, sondern kulturalistisch. Während die längste Zeit fast exklusiv zur Debatte stand, ob das Verhältnis von (physikalischer) Welt und Mathematik durch Identität oder Isomorphie gekennzeichnet sei, steht nun unter system-funktionalistischen Aspekten die Emergenz eines Zeichensystems zur Erforschung, das durch Eindeutigkeit seiner Elemente, schematischen Gebrauch seiner Symbole und Interpretationsfreiheit seiner Grundeinheiten gekennzeichnet ist. Formales Denken, so können wir diese Überlegungen resümieren, schafft einen höheren Grad an Sicherheit und hängt engstens mit der sozialen Organisationsweise zusammen. In dieser, nennen wir sie kommunikativen Funktion liegt letztlich die überzeugungstiftende Kraft, und nicht im Nachvollzug einer scheinbar natürlichen zahlenförmigen Ordnung.

Im vorliegenden Heft zeigt Theodore Porter, wie sich das statistische Denken eng mit nationalstaatlich organisierten politischen Kulturen verklammert. Die Berufung auf objektive Zahlen gegenüber einer bloß auf subjektiver Erfahrung und Introspektion beruhenden Rationalitätsform steht in Zusammenhang mit der Legitimitätsproblematik. Eine demokratische Tradition wie die in den USA fördert die Bereitschaft, Entscheidungshandeln an impersonalen, ,interesselosen‘ Kriterien wie zum Beispiel mathematisch prognostizierbaren Parametern auszurichten, während die kontinentaleuropäische Tradition dazu tendiert, Souveränität an die personalisierte Entscheidungsmacht zu binden. Es handelt sich, wie gesagt, um zwei Kulturen, in denen der quantitativ-rationalistischen Argumentation als Regulativ im politischen und sozialen Leben ein unterschiedlicher Status zukommt. Die Erklärung für das Überhandnehmen von ,Expertenkulturen‘ kann also nicht allein mit der Überlegenheit formaler Methoden begründet werden, sondern, plausibler, mit kulturell bedingten Glaubensakten.

Außerhalb einer herkömmlichen Genealogie der Mathematik und der Formalisierung siedelt auch Karl Anton Fröschl seine Skizze zur Entwicklung der digitalen Symbolwelten an. Wissenschaftliche Welterklärung verdankt sich nicht einer wachsenden Annäherung von objektiv-realen Sachverhalten an deren mentale ,Abbildung‘ , sondern folgt der Anforderung, möglichst ökonomische Ordnungsmodelle auf komplexe, höher ausdifferenzierte Umwelten zu projizieren. ,Naturgesetze‘, das behauptet dieser geraffte Gang durch die Geschichte aus informationstheoretischer Perspektive, sind das Ergebnis von Selektions- und Organisationsleistungen einer scientific community, die selbst wiederum im kulturellen Kontext agiert. Allerdings wendet sich mit der Verfügbarkeit des digitalen Symbolsystems Wissenschaft von der Auslegung oder Interpretation der Welt zu deren (Teil-)Konstruktion hin. Der Erfolg der kartesianischen Wissenschaften beruht eben darauf, daß immer größere Bereiche der Welt durch effektiv konstruierte (künstliche) Systeme ausgetauscht werden, die selbst wiederum den Tendenzen der Ausdifferenzierung und Emergenz neuer Eigenschaften unterliegen. In diesem Sinne sind auch soziale Systeme als ,Erfindungen‘ anzusprechen. (Francois Ewald hat dies am Zusammenspiel von Versicherungsmathematik und Wohlfahrtsstaat in Frankreich überzeugend demonstriert.)

Damit kommen wir auf die Pointe zu sprechen, die allen Beiträgen zueigen ist: Es ist, obwohl diese Vorstellung in der Wissenschaftsgeschichte und insbesondere in der Philosophie der Geschichtsschreibung so suggestiv wirkt, nicht die Physik bzw. die Naturwissenschaft, aus deren Praxis mittels Methodentransfers die Formalisierung und Quantifizierung auf die anderen Wissenschaften übergreift, sondern es gibt für diese ein genuin sozial- und humanwissenschaftliches Interesse. Klaus Hamberger und Harald Katzmair konstatieren anhand der Wissenschaftsentwicklung in Großbritannien im 19. Jahrhundert, daß die wesentlichen Impulse zur Anwendung formaler Methoden in den Gesellschaftswissenschaften weitgehend unabhängig von naturwissenschaftlichen Idealen zustandekamen und sich relativ präzisen politischen Konzepten über die ,Tatsachen-Struktur‘ sozialer Sachverhalte, insbesondere der Demographie und Eugenik, verdankten. Daniel Eckert zeigt in seinem Beitrag über die Herausbildung der Ökonometrie, daß die Formalisierung dieser Wissenschaft durch Walras nicht dem Vordringen einer nomothetischen Wissenschaftskultur generell zuzurechnen ist, sondern vom Bestreben seinen Ausgang nimmt, die normativen Elemente des Naturrechts -insbesondere das Privateigentum – mittels höherer, nämlich mathematischer Vernunft gegen die diversen historischen Schulen zu legitimieren. Als Phänomen der Repräsentation stellt sich auch hier der Effekt einer Wissenskultur ein, die die Gewißheit ihres Wissens an ihrem Formalisierungsgrad mißt.

Die phänomenologische Kritik, die von Husserl ihren Ausgang nahm, hat bei der ,Verstellung‘ des Blicks auf das Wesen der erkennenden Vernunft durch Empirismus und Positivismus angehalten. Sie ist ,fundamental‘ und kulturkritisch geblieben in den vielen Spielarten, in denen sie den Zusammenhang von zahlenförmigem Denken, Warenproduktion, Technokratie und ,Ideologie‘ hervorgehoben hat – am nachhaltigsten wohl in der Dialektik der Aufklärung und deren Angriffen auf das Regime der Zahl, worunter alles Differente kommensurabel wird. Im neuen Kontext der Informationstechnologie und ihrer Sprachen, der von Effizienz statt von Wahrheit regiert wird, unterliegt diese Kritik an der Formalisierung der Welt, die lange Zeit der Selbstvergewisserung der Geisteswissenschaften erfolgreich gedient hat, selbst einer Historisierung. Sie wird heute überlagert durch pragmatische und kulturalistische Überlegungen, die die Entwicklung formaler Systeme vor allem unter dem funktionalistischen Gesichtspunkt analysieren, wie die Informationen aus einer komplexen und dynamischen Umwelt am besten zu organisieren und zu kommunizieren sind. Einige Möglichkeiten einer anderen Art von Kultur- und Wissensgeschichte, die an solche Grundannahmen anknüpfen könnte, wollen wir mit diesem Heft skizzieren.

Siegfried Mattl, Wien
 

Inhalte

Theodore M. Porter
Statistics, Social Science, and the Culture of Objectivity

Karl Anton Fröschl
Die Kohärenz des Virtuellen

Klaus Hamberger/Harald Katzmayr
Herrschaft der Zahl – Krieg der Natur. Zur Mathematisierung der Sozialwissenschaften in England 1800-1900

Daniel Eckert/Leonhard Bauer
Die „soziale Frage“ more geometrico beantwortet. Zur sozialphilosophischen Motivation der Begründung der mathematischen Ökonomik durch Léon Walras

Gianna Pomata/ Thomas Burg
Wieso menstruieren Männer?

Gerhard Meißl/ Alfred Pfoser
Die Ermüdung der Männer. Anson Rabinbachs Beitrag zur Geschichte der Arbeitskraft. Mit einem Interview

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