Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 5. Jg., Heft 2, 1994

Die Konstruktion des Nationalen

Die Konstruktion des Nationalen

Nationale Diskurse sind zumeist historische Diskurse. In der europäischen Aufklärung entwickeln sich zwei wissenschaftliche Schulen, die auf Descartes‘ Unterscheidung von Vernunft und Tradition als der Begründung von Wissen zurückgehen. Zum "Was weiß ich?" der französischen und englischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts gesellt sich in der deutschen Aufklärung ein kräftiges "Wer bin ich?". Und während Hume über die rationale Begründung der civil society philosophiert, begeistert sich Herder für die Lieder alter Völker. Bei der Suche nach den philosophischen Grundfesten einer neuen Gesellschaft werden demos und ethnos zu den gegensätzlichen Ausgangspunkten nationalstaatlicher Konzeptionen.

In der Identitätssuche westeuropäischen Zuschnitts werden die Stoffe der Vergangenheit zum Gegenstand der Folklore und bleiben für die zivile Verfassung der Gesellschaft ohne Bedeutung. In der deutschen und mitteleuropäischen Aufklärung hingegen – und besonders in der Romantik – werden die Bilder der Vergangenheit zu den Vor-Bildern der neuen Gesellschaftsentwürfe.

Am Beispiel des schottischen Ossian-Epos verdeutlicht Fania Oz-Salzberger, wie und warum ein romantisierendes, mythisches Gesellschaftsbild im rationalistischen Identitätsdiskurs des entstehenden Empire marginal blieb, in seiner deutschen und zentraleuropäischen Rezeption jedoch zu einem zentralen Werk des philosophischen und politischen Diskurses über ,Nation‘ wurde.

Die in Mitteleuropa entstandene zionistische Bewegung ist eine späte Frucht dieser philosophischen Tradition. Uri Ram beschreibt, wie nach der Gründung des Staates Israel die aufklärerische jüdische Historiographie über Bord geworfen und ein mythisches Geschichtsbild zur ideologischen Grundlage der neuen Nation wird.

Zu welch verheerenden Folgen das Postulat der Einheit von Volk, Territorium und Staat führen kann, wenn in gemischtsprachigen Gebieten konkurrierende Konzeptionen von ,Ethnie‘ und ,Nation‘ aufeinanderprallen, thematisiert Rolf Wörsdörfer an der Region Julisch-Venetien und Dalmatien im 20. Jahrhundert.

Mit der Durchsetzung einer bestimmten National-Ideologie geht die Entwicklung einer neuen historischen Narration einher. Veränderungen und Brüche in der kollektiven Erinnerung manifestieren sich auch im Umgang mit den Statuen, Denkmälern und Bauwerken als den Symbolen nationalen oder staatsideologischen Gedächtnisses. Berthold Unfried untersucht den ikonoklastischen oder musealisierenden Umgang mit nationalen und staatsoffiziellen Monumenten im Übergang der ,realsozialistischen‘ Regime zu neuen Nationalstaaten.

Wie präsent die nationalen Diskurse der Vergangenheit in osteuropäischen Ländern derzeit sind und welche Bedeutung ihnen in den politischen Auseinandersetzungen zukommt, zeigt Éva Kovács an der in Ungarn seit 1989 wieder auflebenden ,volkstümlich-urbanistischen‘ Debatte, in der sich der Antisemitismus hinter der Rede vom ,wahren Ungarnturn‘ durchaus kenntlich verbirgt.

Daß der nationale Diskurs keineswegs auf Osteuropa beschränkt ist, dokumentiert Rudolf Kroboths Sammelbesprechung jüngster einschlägiger Publikationen in Deutschland.

Im nationalhistorischen Diskurs, so wird deutlich, schaffen sich keineswegs nur Nationen eine neue Sicht ihrer Geschichte. Vielmehr befruchten einander Nation und historische Narration wechselseitig, wird die apriori postulierte Nation durch die Geschichtsschreibung erst herbeigeschrieben. Und häufig bringt erst die praktisch-politische Umsetzung nationalistischer Konzeptionen jene nationalen Identitäten hervor, die nationaler und nationalistischer Politik axiomatisch zugrundeliegen.

Gerhard Baumgartner
Robert Luft
Gerald Sprengnagel
 

Inhalte

Uri Ram
Narration, Erziehung und Erfindung des jüdischen Nationalismus

Fania Oz-Salzgeber
Von den Hügeln der Kaledonier

Rolf Wörsdörfer
,Ethnizität‘ und Entnationalisierung

Berthold Unfried
Denkmäler des Stalinismus und ,Realsozialismus‘

Éva Kovács
,Volkstümliche‘ und ,Urbanisten‘

Hermann Rebel
Massensterben und die Frage nach der Biologie in der Geschichte

Rudolf Kroboth
Nationalpolitischer Geschichtsdiskurs

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