Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 3. Jg., Heft 2, 1992

Wirtschaftspolitik im totalen Staat

Wirtschaftspolitik im totalen Staat

Die wissenschaftliche Diskussion um die nationalsozialistisch beherrschte Gesellschaft dauert an. Daß sie insgesamt barbarisch war, steht außer Frage. Daß der Nationalsozialismus sexuelle und soziale Ängste in archaischen Familienbildern und Blut- und Bodenmythen auffangen wollte, wissen wir seit langem. Aber war die NS-Politik – so wird gefragt – in Teilbereichen nicht auch ,modernisierend‘? Ist ihre offenkundige Fähigkeit, massenhaft Anhänger/innen zu mobilisieren, nicht auch auf eine ,erfolgreiche‘ Wirtschafts- und Sozialpolitik zurückzuführen?

,Modernisierung‘ der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen meint ein Wachstum der Industrie, den Ausbau der Energiewirtschaft und des Transportwesens, Rationalisierung und Konzentration in Handel, Gewerbe und Landwirtschaft, sowie eine Sozialpolitik, die eine adäquate Reproduktion der Arbeiter, Angestellten, Bauern und Beamten gewährleisten soll. Das Wort ,Modernisierung‘ ist in den 1950er Jahren in der Soziologie eingeführt worden. Als funktionalistischer Begriff bezieht es sich dort v.a. auf mutuelle Prozesse der Kapitalbildung, der Ausschöpfung von Ressourcen, der technischen Entwicklung der Produktionskräfte und der Steigerung der Arbeitsproduktivität, auf die Expansion von Märkten und die Bildung von Staaten mit politischer Zentralgewalt, aber auch auf die politische Demokratisierung und – nicht zuletzt – auf die Säkularisierung von Werten und Normen. Ein Teil der Geschichtswissenschafter/innen hat diesen soziologischen Begriff für die Erforschung des Dritten Reichs und ähnlicher Herrschaftssysteme übernommen. Angesichts der anti-humanen Politik dieser Regime trennen sie dabei die Parameter der ökonomischen und sozialen ,Modernisierung‘ von den normativ-ethischen und politischen Grundwerten der okzidentalen Moderne ab. Genau diese Trennung ist sehr umstritten. Der Erkenntnisgewinn könnte aber zumindest sein, daß sichtbar wird, daß sich ,Modernisierung‘ im techno-ökonomischen und sozialtechnischen Sinn auch in einem diktatorischen und/oder faschistischen Gesellschaftssystem vollziehen kann.

Für Österreich und für Ungarn stellen sich die damit zusammenhängenden Fragen insbesondere in bezug auf den ,Entwicklungsrückstand‘, den beide Länder in den 1930er Jahren gegenüber dem Deutschen Reich gehabt haben. Fritz Weber untersucht in seinem Beitrag das Ausmaß und die Besonderheiten des Industrialisierungsschubes in der "ostmärkischen" Wirtschaft nach 1938 und das wirtschaftliche Erbe des Nationalsozialismus in seiner Bedeutung für die Zweite Republik. Michael John diskutiert die Frage, ob im damaligen Gau Oberdonau bei der sogenannten Entjudung der Wirtschaft landesspezifische Interessen verfolgt worden sind, was die bekannte These vorn polyzentrischen Charakter des Dritten Reichs neuerlich bestätigen könnte. Gerhard Baumgartner analysiert die Landwirtschaftspolitik der Nationalsozialisten am Fall eines burgenländischen Landbezirks und konstatiert ihr nahezu vollständiges Scheitern. György Lengyel untersucht die Kriegswirtschaft Ungarns und sein ständisch-faschistisches Gesellschaftsmodell. – Allen Beiträgen ist gemeinsam, daß sie die empirisch rekonstruierten Schübe an Industrialisierung und Rationalisierung im totalen Staat letztlich nur im Zusammenhang von Krieg und Kriegswirtschaft, Genozid und politischem Terror – also kontextuell – bewerten können. In selektiver Weise von "ordentlicher Beschäftigungspolitik" im Dritten Reich zu reden bleibt jenen vorbehalten, die diesen Zusammenhang aus Dummheit oder aus Infamie nicht zur Kenntnis nehmen möchten.

Reinhard Sieder
 

Inhalte

Fritz Weber
Die Spuren der NS-Zeit in der österreichischen Wirtschaftsentwicklung

György Lengyel
Von der gelenkten Wirtschaft zur Kriegswirtschaft

Gerhard Baumgartner
„Unsere besten Bauern verstehen manchmal unsere Worte schwer!“

Michael John
Modell Oberdonau?

Jaroslav Kučera
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