Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 1. Jg., Heft 2, 1990

Arbeiter/innen und Arbeitslose

Arbeiter/innen un Arbeitslose

In den letzten Jahrzehnten wurde die Geschichte der Erwerbsarbeit in vorindustriellen und industriellen Produktionsweisen immer häufiger mit der Geschichte der erwerbstätigen Männer, Frauen und Kinder verknüpft: Fragen und Zugänge der Wirtschaftsgeschichte und Arbeiter(bewegungs)geschichte konvergierten in einer Sozialgeschichte der Arbeit bzw. der arbeitenden Menschen. Neben dem Zuwachs an Komplexität des Denkens und Argumentierens war damit vielerorts auch ein harmonisierender Effekt verbunden: die Geschichte der Arbeiter/innen und der Arbeiterbewegung wurde in ein klassenneutrales Bild der ,Modernisierung‘ integriert. Geschichtsschreibung und historische Ausstellungen übernahmen und transportierten – teils unerkannt, teils als intendierte politische Strategie  – den Mythos des ,industriellen Fortschritts‘. Die Integration des ehemals ,gefährlichen‘ Industrieproletariats in die demokratischen, faschistischen und staatssozialistischen Gesellschaftssysteme durch öffentliche Wohlfahrt und politische Integration der Funktionäre und Wähler wurde trotz verschiedener ideologischer Vorzeichen ebenso konsensfähig wie die Einschätzung von ,Arbeitslosigkeit‘ als politisch und sozial destabilisierendes Element. Diese Sicht ist in jüngster Zeit durch die Verbreitung "postindustrieller" Arbeitsformen, durch den Legitimitätsverlust der "alten" Arbeiterparteien und Gewerkschaften und neue Formen von Massenarbeitslosigkeit in Gesellschaften mit hoher Produktivität bezweifelbar geworden.

Siegfried Mattl diskutiert die "Befreiungstheologie der Industriearbeit", der die Arbeiterbewegung und die Arbeitergeschichte viele Jahrzehnte gefolgt sind. In Auseinandersetzung mit den von André Gorz und anderen Autoren vorgetragenen Philosophien der "postindustriellen Gesellschaft" interpretiert er die Entwicklungen der 1960er und 1970er Jahre in den west- und mitteleuropäischen Gesellschaften als politischen Bruch mit den traditionellen Klassenbindungen, als sozialen Bruch mit den traditionellen Organisationen der Arbeiterschaft und als psychologischen Bruch in der Wahrnehmung von Arbeit als sinn- und identitätsstiftender Hauptaktivität. Daran anknüpfend problematisiert er die gegenwärtig erfolgende Musealisierung der Arbeit als professionellen Anteil von Historiker/innen an den aktuellen Deutungsprozessen.

Wolfgang Russ untersucht die Kehrseite des industriellen Arbeitsmythos: die Dämonisierung von Arbeitslosigkeit und die Versuche ihrer politischen Funktionalisierung am Beispiel der Weltwirtschaftskrise in Großbritannien, den USA, Deutschland und Österreich. Angesichts dessen, daß sich west- und mitteleuropäische Gesellschaften, und neuerdings auch die bis vor kurzem ,realsozialistischen‘ Länder mit Arbeitslosigkeit als Preis für ihre Modernisierung arrangieren, stellt er die Frage, ob die historiographische Sicht auf Arbeitslosigkeit in den 1920er und 1930er Jahren nicht selbst weitgehend politisch-ideologisch verbrämt ist und unterzieht die Versuche politischer Parteien und Gewerkschaften zur Organisierung von Arbeitslosen einer kritischen Bewertung.

Wolfgang Maderthaner setzt sich mit Arbeitskonflikten und Konfliktlösungsstrategien in industriell entwickelten Gesellschaften auseinander. In der Sicht einer kritischen Geschichtswissenschaft, die nicht kurzerhand die Deutungen der politischen Funktionäre übernimmt, werden die lange Zeit unbefragten Kategorien “vorindustrieller” resp. “industrieller” Formen der Konfliktaustragung zwischen Arbeiter/innen, Unternehmern und staatlichem Gewaltmonopol problematisch. Die ,Modernisierung‘ der Konflikte, die Ablösung von ,spontanen‘, ,eruptiven‘ und ,desorganisierten‘ Streiks einzelner Arbeitergruppen durch das “planmäßig vorbereitete, nüchtern erwogene Mittel des gewerkschaftlichen Kampfes” überregionaler Arbeiterorganisationen wird an historischen Fällen aus mehreren europäischen Ländern analysiert.

Helmut Bräuer resümiert in seinem Beitrag die Erträge umfangreicher Forschungen zur Organisation von Erwerbsarbeit und ,arbeitsfreier‘ Zeit im Handwerk des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Er skizziert den Wandel der Wahrnehmung und Handhabung von ,Zeit‘ zwischen 1300 und 1650 und zeigt, wie damit die Dispositionsmacht über die Arbeitszeit zwischen Meistern und Gesellen zunehmend strittig wurde.

Im Interview diskutiert der kanadische Historiker ungarischer Herkunft, János M. Bak, den rezenten Trend zu einer Alltags- und Sozialgeschichte der Herrschenden und die jüngsten Entwicklungen der Geschichtswissenschaft in Ungarn. Das Forum dieses Heftes ist der neuen Kontaktaufnahme zwischen österreichischen und bundesdeutschen Historiker/innen einerseits und Historiker/innen aus der CSFR andererseits gewidmet. Kritiken der niederösterreichischen und burgenländischen Landesaustellung reflektieren die unverkennbaren Fortschritte, aber auch die v.a. organisatorisch bedingten Mängel in der Visualisierung historischer Themen.

Die im ersten Heft der ÖZG angekündigte Fortsetzung des Beitrags von Gerhard Botz über die österreichische Zeitgeschichte kann aus Platzgründen erst im nächsten Heft erscheinen.
 

Inhalte

Siegfried Mattl
Die Musealisierung der Arbeit

Wolfgang Russ
Zwischen Protest und Resignation

Wolfgang Maderthaner
Arbeitskonflikte und Konfliktlösungsstrategien

Helmut Bräuer
Herren ihrer Arbeitszeit?

János M. Bak
Zurück zu den Eliten?

Ralph Melville
Deutsch-tschechisches Historiker-Kolloquium

Erich Landsteiner
Verbindendes und Trennendes an der Grenze

Gerhard Jaritz
Von den leisen Zeichen der Veränderung

Karl Vocelka
Adel im Wandel. Politik, Kultur, Konfession 1500-1700

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