Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 14. Jg., Heft 2, 2003

Psychoanalytisches Wissen

Psychoanalytisches Wissen

Mischt sich die Psychoanalyse unter die Geschichtswissenschaften, entsteht keine stabile Verbindung. Dass die beiden Wissensfelder zu einer Entmischung neigen, liegt auf den ersten Blick nicht unbedingt auf der Hand. Gemeinsam ist den Vertretern und Vertreterinnen beider Disziplinen ihre Ausrichtung auf die Vergangenheit und die Umarbeitung der Tradierungsmuster von Geschichte. Die Bedeutung, die sie der Geschichtlichkeit einräumen, war es auch, die beiden eine ähnliche Kritik eintrug. Sowohl die Geschichte als Wissenschaft als auch die Psychoanalyse als klinische Disziplin gerieten in das Zentrum der apodiktisch geführten Debatten zwischen den Fiktionalisten und den Objektivisten. Der Vorwurf, der gegen beide ins Treffen geführt wurde und wird, lautete zum einen, ihre Erkenntnisse würden im Unwissen darüber erzeugt, dass ihre jeweiligen Bezugspunkte nichts Anderes als nach Regeln sprachlicher Übereinkunft gebildete Variablen wären. Zum anderen erfolgte die Verteidigung gleichermaßen von historischer wie von psychoanalytischer Seite allzu oft im Zeichen einer unmittelbaren Erkennbarkeit von Vergangenem, sei es auf individueller oder kollektiver Ebene. In dieser Kontroverse verfügt die Psychoanalyse immerhin über einen zeitlichen Vorsprung. Der ergibt sich weniger daraus, dass Vertreter eines einheitlichen Paradigmas von Wissenschaft ihr von Beginn an den wissenschaftlichen Status aberkannten, als aus den Reformulierungen psychoanalytischer Erkenntnisse als solcher. Die Spannungspole, zwischen denen sich ein Verständnis der Geschichtlichkeit des Individuums bereits bei Freud bewegt, schließen sowohl den Glauben an die mögliche Reaktivierung vergangener Ereignisse ein als auch die Einsicht in die Unmöglichkeit, auf Daten zu stoßen, die einer nachträglichen Bearbeitung entgangen wären.

Die ähnlich gelagerten Einwände gegen die Geschichtswissenschaften und die Psychoanalyse schweißten die beiden dennoch kaum zusammen. Der jeweilige Gegenstand verliert vor allem dann an gemeinsamen Konturen, wird er an den unterschiedlichen epistemologischen Rahmen ausgerichtet, in denen er jeweils gewonnen wird. Obwohl die Geschichtswissenschaften durch Pluralisierungen ihrer Ansätze ihr Verständnis von Geschichte ausgeweitet haben, weicht dieses erheblich von den Auffassungen ab, welche die Psychoanalyse von historischen Phänomenen hat. Trotz des langen und immer noch andauernden Abschieds von der Vorstellung, Vergangenes ließe sich abbilden, ohne variierende, von der Gegenwart vorgeprägte Erkenntnisinteressen und – mittel einzusetzen, welche die Aussagen über Gewesenes mitbedingen, scheiterten die Versuche, den Gegenstand der Historiker demjenigen der Psychoanalytiker anzugleichen.

Die Nähe, in die Vertreter der Geschichtswissenschaften zu denen der Psychoanalyse geraten, bleibt, mit Freud gesprochen, unheimlich. Die mittlerweile in die Jahre gekommenen Versuche, psychoanalytische Paradigmen auf vergangene Zeiten anzuwenden, lassen sich vielleicht als Kritik an Historiographien verstehen, die bestimmte Erkenntnisgrundlagen – wie die der Beziehung der Wissenschaftler zu ihren Objekten – ausblendeten. Doch das Ergebnis fiel weder für die eine noch für die andere Seite sehr überzeugend aus: Monokausale, der Annahme einer psychologischen Determinierung verhaftete Modelle entstanden, in denen dem historischen Material oft nicht mehr als die Rolle der Bestätigung formelhaft zugespitzter, unverrückbarer Denkfiguren zukam. Nur in ganz seltenen Fällen führte ein Grenzübertritt zwischen Geschichtswissenschaften und Psychoanalyse zu Formen der Historiographie, die über die bloße Anwendung einer aus klinischen Zusammenhängen gewonnenen Theorie hinausführten. Einen geglückten, aber weitgehend singulär gebliebenen Dialog eröffnete Michel de Certeau, der den Blick, der die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse dominierte und dominiert, in neue Bahnen lenkte.(1) In seinen Überlegungen geben Freud und Lacan den Historikern keine Methoden als sichere Leitschiene zur Hand. De Certeau untersucht abseits dessen jene eigenständige Form der Geschichtsproduktion, welche die Psychoanalyse betreibt. Daraus gewinnt er Fragestellungen, die er innerhalb der Geschichtswissenschaft weitertreibt, ohne historisches Wissen restlos in psychoanalytisches umwandeln zu müssen und umgekehrt.

Die Historisierung der Psychoanalyse wiederum verblieb vorwiegend in den eng gesteckten Grenzen wissenschaftshistorischer Zugänge, die eine traditionell gefasste Disziplinengeschichte bedienen. Es überwiegen personen- und institutionenbezogene Studien, deren Entstehung vor allem die soziale Forschungslage der Psychoanalyse-Historiographie widerspiegeln: Angesiedelt meist im außerakademischen Raum orientieren sie sich am dafür typischen Genre – an der Biographie. Der ausgeprägte Hang zur Personalisierung erhält Verstärkung aus der vermeintlich biographischen Orientierung der Psychoanalyse. Näher besehen entpuppt sich die psychoanalytische Perspektivierung des Individuums allerdings eher als eine Untersuchung der Illusionsbildungen denn als methodische Folie für eine historische Biographieforschung.

Die historischen Beiträge, die im deutschsprachigen Raum vor allem von Seiten der Emigrationsforschung geleistet wurden, haben einen wichtigen Auftakt zu einer Wissenschaftsgeschichte der Psychoanalyse dargestellt, aber auch sie akzeptierten weitgehend die konfliktfreie Arbeitsteilung zwischen der exegetischen, von Psychoanalytikern betriebenen Theoriegeschichte und einer vorwiegend biographisch orientierten Geschichte der Disziplin. Was dabei auf der Strecke blieb, war ein Zugang, der die Möglichkeit eröffnet, die theoretischen Bildungen und klinischen Praktiken der Psychoanalyse aus historischer Perspektive zu beleuchten. Wenn einzelne Studien dies getan haben, so meist als rein polemisches und negatives Projekt, das vor allem dazu dienen sollte, die »Freud-Legenden« zu demontieren. Diese Demontage erfolgte durchwegs aus einem normativen Blickwinkel, der die Wissenschaftlichkeit, die Freud für sein Verfahren einforderte, an den Maßstäben einer  Leitwissenschaft ausrichtete und auf diese Weise rasch zu einem negativen Befund gelangte. Ein Großteil der historischen Literatur schreibt ein bellizistisches Szenario fort, das Protagonisten in einem Kampf für oder gegen Freud auffährt. Den polemischen Drall, den die Historie damit erhält, gab zwar schon Freud vor, dessen sich explizit als Geschichtswerke zu verstehen gebende Arbeiten unverhüllt polemische Absichten verfolgen.(2) Doch profitiert hat von diesem dramatisierenden Stil bis heute die Literatur der »Freud Wars«.

Dieses Heft stellt Texte vor, die eine Historisierung der Psychoanalyse abseits dieser festgefügten Fronten unternehmen. Die Beiträge arbeiten ein Bild der Psychoanalyse aus, das ihr theoretisches, aber auch ihr in der Praxis erzeugtes klinisches Wissen als zeitgebundenes und damit veränderbares Geschehen betrachtet. Eine solche Sichtweise verlangt Ansätze, die nach den Eigenheiten psychoanalytischer Wissensproduktion fragen. Dass die Psychoanalyse in der Hypnose einen Vorlauf genommen hat, verleitet oftmals dazu, die Differenz zwischen den älteren therapeutischen Verfahren und der Freudschen Methode einzuebnen. Andreas Mayer stellt in seiner Untersuchung der Hypnose-Kulturen die sozialen und materiellen Elemente heraus, die das Unbewusste als wissenschaftliches Objekt konfigurieren. Das Emblem der Psychoanalyse – die Couch – wird auf diese Weise Komponente einer Geschichte, in der die unbewussten, inneren Objekte auf die äusseren bezogen werden. Durch diese Lokalisierung der hypnotischen und psychoanalytischen klinischen Praktiken lassen sich Differenzen zwischen den beiden verdeutlichen, die durch eine personalisierende Sicht auf die Selbstanalyse Freuds ausgeblendet bleiben.

Mein eigener Beitrag widmet sich den weniger emblematischen, dafür allgemein zugänglichen Formen, welche die Psychoanalyse vermitteln. Bücher und Zeitschriften, welche die psychoanalytische Traumtheorie präsentieren, eröffnen einen Leseraum, der nicht nur dem adressierten Fachpublikum, sondern auch einer allgemeinen Leserschaft zugänglich bleibt. Die textuellen und materiellen Eigenschaften der gedruckten Vehikel psychoanalytischer Empirie werden zum Ausgangspunkt genommen, um bestimmte Transformationen der Traumlehre und der damit in Verbindung stehenden Praktiken zu erhellen. Die Ausbildung des psychoanalytischen Wissens in Form einer hierarchischen Beziehung zwischen Arzt und Patient scheitert an den lesenden Patienten.

Verständnis für die Eigenheiten der Psychoanalyse lässt sich auch aus der sie stets begleitenden Kritik gewinnen. Teilnehmer einer Debatte über Freud in der englischen Zeitschrift The Nation & The Athenceum geben John Forcester die Fäden in die Hand, paradigmatische Positionen der Freud-Kritik zu entwickeln. An dieser Mitte der 1920er Jahre in Cambridge ausgetragenen Kontroverse beteiligt sich auch John Maynard Keynes. Keynes‘ Auseinandersetzung mit Freud lässt sich bis hinein in dessen ökonomische Theorie verfolgen, die sich radikal gegen die viktorianischen Werte wendet und eine psychologische Grundlage benötigt. Die historische Situierung der Freud-Kritiker erklärt, warum etwa von Seiten der Psychologen die Ablehnung gegen Freud sehr stark ausfällt, während ein Ökonom wie Keynes eine differenziertere Sicht entwickeln kann.

Die französische Psychoanalyse der Jahre unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wird von Annick Ohayon in den Blick genommen. Sie greift Protagonisten heraus, die durch die Engführung der Diskussion auf den Namen Jacques Lacans in der Regel überschattet wurden. Die angedeutete kämpferische Tendenz der Psychoanalyse-Historiographie macht sich bei Ohayon auf doppelte Weise bemerkbar: Sie bringt die zum Teil aus der Besatzungszeit resultierenden politischen Konflikte der französischen Nachkriegsgesellschaft zur Überschneidung mit den Debatten, die zwischen den Vertretern einer psychoanalytisch orientierten Psychiatrie und Psychologie geführt werden. Die politische Rahmung der wissenschaftlichen Kontroversen verhindert es, Spaltungen, die die psychoanalytischen Gesellschaften durchlaufen, auf Ergebnisse persönlicher Zwistigkeiten zu reduzieren.

Die panoramatische Sicht Ohayons konterkariert Henning Schmidgen mit seinem Beitrag über Lacan. Seine akribische Studie zum Frühwerk des Psychoanalytikers tastet buchstäblich die Textoberflächen ab, welche die Grundlage von dessen Beziehung zur Phänomenologie bilden. In Distanz zu von den durch Foucault kritisierten ideengeschichtlichen Ansätzen verfolgt Schmidgen die materiellen Formen, in denen Lacan Edmund Husserl und der phänomenologisch orientierten deutschen Psychiatrie begegnet und sich zu deren »Übersetzer« macht. Als bislang unbekannte Mittlerfigur hebt Schmidgen durch dieses Verfahren Max Scheler hervor, dem Lacan mehr verdankt als bisher angenommen.

Mit Michael Schröter kommt ein Vertreter der Psychoanalyse-Geschichte zu Wort, der sein Arbeitsfeld in Abgrenzung von der und in Anlehnung an die akademisch verankerte Geschichtsschreibung vermisst. Sein Beitrag ist nicht ohne polemische Absicht entstanden, wenn er die Mängel auf Seiten sowohl der psychoanalytischen Sonntags-Historiker als auch der etablierten Wissenschaftsgeschichte benennt. Alexandre Métraux schließlich nimmt die neue Taschenbuch-Ausgabe der Psychopathologie des Alltagslebens zum Anlass, um auf den editorischen Missstand in Sachen Freud-Ausgaben hinzuweisen. Im Gegensatz zu anderen Klassikern des 20. Jahrhunderts fehlt noch immer eine kritische Ausgabe der Werke Freuds.

Dieser letztgenannte Umstand entspringt sowohl der Geschichtsauffassung eines Großteils der Psychoanalyse-Vertreter als auch dem Desinteresse der historisch verfahrenden Wissenschaften an der Psychoanalyse. Beiden Haltungen könnte dieses Heft etwas Wind aus den Segeln nehmen. Wenn W. H. Auden bereits in den 1940er Jahren behaupten konnte, die Psychoanalyse erzeuge ein  »climate of opinion«, so schließen sich die Beiträge dieses Bandes an diese meteorologische Metapher an: Sie versuchen mit einem historisch geschulten Blick zu verdeutlichen, wie die Psychoanalyse das 20. Jahrhundert klimatisch begleitete und dabei höchst wechselhafte Wetterlagen auslöste.

Lydia Marinelli

Anmerkungen

(1)    In der deutschen Übersetzung von Ecriture de l’histoire Michel de Certeau (Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt am Main 1991) wurde der Teil über Freud stark gekürzt. Daraus lässt sich ablesen, wie wenig Bedeutung die Geschichtswissenschaft seiner Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse zugestanden hat.
(2)     Vgl. Sigmund Freud, Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung (1914), in: Gesammelte Werke X. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland, herausgegeben von Anna Freud, Edward Bi bring, Willi Hoffer, Ernst Kis und Otto lsakower, London 1946, 43-113.
 

Inhalte

Andreas Mayer
Zur Genealogie des psychoanalytischen Settings

Lydia Marinelli
Wie psychoanalytische Bücher Träume und Psychoanalysen Bücher verändern können

John Forrester
»A sort of devil« (Keynes on Freud, 1925): Reflections on a century of Freud-criticism

Annick Ohayon
Die psychoanalytische Bewegung in der französischen Nachkriegsgesellschaft (1945-1953). Allianzen und Brüche

Henning Schmidgen
»Verschiedene Schicksale«. Das Frühwerk Jacques Lacans und die Phänomenologie

Michael Schröter
Zwischen den Stühlen. Betrachtungen über den sozialen Ort, die Probleme und Chancen der Psychoanalysegeschichte

Alexandre Métraux
Über psychoanalytische Editionstechnik oder: Wie Geschichte in ein Buch gerät

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