Das Wetter ist in die Schlagzeilen geraten. Kaum ein Monat vergeht ohne Nachrichten über Witterungsereignisse mit tragischen Konsequenzen für die in den betroffenen Gegenden lebenden Menschen. Dürrekatastrophen und Überschwemmungen sind nicht mehr auf die sensiblen ökologischen Zonen der Erde beschränkt. In Nordfrankreich stehen ganze Landstriche monatelang unter Wasser, während in Mitteleuropa der Niederschlagsmangel die Getreideernten vernichtet. Stehen wir am Beginn einer Klimaänderung? Hat sie schon begonnen? Ist sie anthropogen verursacht oder der gesellschaftlichen und politischen Einflußnahme gänzlich entzogen? Der >Kampf um die Wahrheit< wird nicht nur auf den Seiten wissenschaftlicher Publikationsorgane, sondern vor allem auch im Rahmen von WeItklimakonferenzen und Intergovernmental Panels on Climatic Change ausgetragen. Er droht zu einem zentralen Thema der außenpolitischen Auseinandersetzung zwischen Regierungen und Staatengemeinschaften zu werden.
Da die Frage des Wandels zwangsläufig eine zeitliche Dimension in sich birgt und sich für die Identifikation möglicher anthropogener Ursachen des Klimawandels der Vergleich mit Klimaveränderungen in der Vergangenheit anbietet, nimmt auch das öffentliche Interesse an der Klimageschichte zu. Diese hat, nicht zuletzt aufgrund der mit dem öffentlichen Interesse einhergehenden Förderung, in den letzten Jahren beeindruckende Fortschritte gemacht. Umfangreiche Datenbanken mit Informationen über vergangene Witterungsereignisse werden angelegt, mittlerweile stehen zahlreiche lange Datenreihen zu Temperaturverlauf und Niederschlagsgeschehen sowie Karten, die die Positionen von Hoch- und Tiefdruckgebieten in jahreszeitlicher Auflösung während des letzten halben Jahrtausends darstellen, zur Verfügung.
Klimahistoriker bewegen sich im Grenzbereich zwischen Natur- und Sozialwissenschaften. Diese Transdisziplinarität ist eine ihrer Stärken, sie wirft aber aufgrund der unterschiedlichen Paradigmen auch vielfältige Probleme auf. Will die Klimageschichte nicht bloß Datenzuträger der Klimatologie für die Periode vor dem Beginn instrumenteller Messungen sein, dann muss sie sich der Frage nach den sozialen Dimensionen von Klimaänderungen stellen. Die naturwissenschaftliche Orientierung birgt die Gefahr deterministischer Argumentationsweisen bei der Behandlung der komplexen Beziehungen zwischen Gesellschaft und natürlicher Umwelt in sich, daher scheuen viele Historiker und Anthropologen davor zurück, diesen Beziehungen vermehrte Aufmerksamkeit zu widmen. Das hat zu der paradoxen Situation geführt, dass, während der frühere klimageschichtliche Determinismus oft unhaltbare Schlussfolgerungen auf der Basis unzureichender empirischer Grundlagen zog, es heute an Forschungen mangelt, die die nunmehr wesentlich breitere Datenbasis für die Untersuchung möglicher gesellschaftlicher Konsequenzen von Klimawandel nützen würden.
Christian Pfister, gegenwärtig der wichtigste Vertreter der klimahistorischen Forschung im deutschsprachigen Raum, eröffnet diesen Band mit einem Beitrag zum state of the art. Er resümiert den Stand der Forschungsdiskussion, erläutert die Daten und Methoden, mit denen die Klimageschichte arbeitet, und stellt Ansätze und Ergebnisse der historischen Klimawirkungsforschung vor. Ein von Rudolf Brázdil angeführtes, interdisziplinäres Forscher/innenteam untersucht den Verlauf der Hungerkrise in den böhmischen Ländern in den Jahren 1770-1772, rekonstruiert deren meteorologische Ursachen und fragt nach den sozialen Folgen dieser Katastrophe. Erich Landsteiner wirft die Frage nach den notwendigen Bedingungen eines nicht-deterministischen Dialogs zwischen Historischer Klimatologie und Geschichtsschreibung auf und lotet dessen Möglichkeiten anhand einer Analyse der wirtschaftlichen und sozialen Folgen einer erhöhten Frequenz von Getreidemissernten im mitteleuropäischen Raum im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts aus.
Im Forum stellt Urs Dietrich die an der Universität Bern erstellte Datenbank EuroClimHist zur Speicherung von historischen Klimadaten vor.
Weiters enthält dieses Heft ein Gespräch mit Immanuel Wallerstein über die Entstehungszusammenhänge der Weltsystemanalyse und deren Potenzial, Aussagen über den gegenwärtigen Zustand und die nahe Zukunft der Weltwirtschaft zu machen, sowie Besprechungen mehrerer rezenter Weltgeschichten des 20. Jahrhunderts.
Erich Landsteiner, Wien
Christian Pfister
Klimawandel in der Geschichte Europas. Zur Entwicklung und zum Potenzial der Historischen Klimatologie
Rudolf Brázdil/ Hubert Valášek/ Jürg Luterbacher/ Jarmila Macková
Die Hungerjahre 1770-1772 in den böhmischen Ländern. Verlauf, meteorologische Ursachen und Auswirkungen.
Erich Landsteiner
Trübselige Zeit? Auf der Suche nach den wirtschaftlichen und sozialen Dimensionen des Klimawandels im späten 16. Jahrhundert.
Immanuel Wallerstein/ Andrea Komlosy/Erich Landsteiner
World-Systems Analysis
Urs Dietrich
EuroClimHist als Werkzeug des Historikers
Gerhard Altmann
Vier Weltgeschichten des 20. Jahrhunderts