Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11. Jg., Heft 2, 2000

gross stadt verkehr

In einer kultur- und sozialwissenschaftlichen Perspektive, wie sie Cultural Studies oder auch die praxeologische Soziologie Pierre Bourdieus präferieren, erscheint Stadtverkehr als ein Praxisfeld mit individuellen und institutionellen Akteuren, das durch die feldrelevanten Tätigkeiten, die praktischen und symbolischen Handlungen aller Teilnehmer, der diversen Verkehrsbetriebe und ihres Personals, der Autofahrer, Fußgänger und Radfahrer, der U-Bahn- und Straßenbahnbenützer, der Verkehrspolizisten und Schülerlotsen Tag für Tag, Nacht für Nacht hergestellt wird. Sie alle sind mit unterschiedlichen materiellen, technischen und symbolischen Ressourcen zur Teilnahme am Verkehr einer Stadt ausgestattet und, sofern sie es schon lange genug tun, zeigen sie mehr oder minder zählebige Neigungen. (Man denke nur an die Autofahrer, die um ihren Wohnblock kreisen auf der halbstündigen Suche nach dem berühmten kleinen Platz am Straßenrand, an dem sie ihr Fahrzeug endlich für ein paar Stunden loswerden können.) Die Ressourcen, die sie einsetzen (Blaulicht und Folgetonhorn, Uniform, Autobus, Auto, Fahrrad, körperliche Behändigkeit, Faulheit oder Gebrechlichkeit, die Wochen- oder Monatskarte der städtischen Verkehrsbetriebe oder auch die Bereitschaft, das Schwarzfahrer-Risiko auf sich zu nehmen), machen sie im Feld des Stadtverkehrs unterschiedlich mächtig und – in je verschiedener Weise zu Verursachern von störenden Effekten für andere Stadtbewohner. Als Berufstätige und als Privatpersonen, als Verkehrende, Wohnende und Ruhende, als Flaneurs und als Besichtigte geraten sie in praktische Zielkonflikte, die sie meist nicht selber und auf sich gestellt lösen können. Kurz, ihre Kompetenz, das Verkehrssystem nach ihren Interessen unter Einsatz ihrer Ressourcen für sich zu nützen, macht sie zu Akteuren einer Verkehrskultur, als solche produzieren sie aber auch mit an den Widersprüchen und Konflikten in einer Stadt.

Nach dem von Habermas und anderen vorgeschlagenen Denkmodell einer oppositionellen Beziehung zwischen Systemen und Lebenswelten bilden die vernetzten Strukturen des Verkehrs einerseits ein System, das einer systemischen Logik, nämlich der Logik seiner fortgesetzten Selbstintegration folgt. Andererseits aber können alle Arten von Verkehrsbetrieben aus der Handlungsperspektive ihrer Beschäftigten und Kunden auch als Lebenswelten betrachtet werden. Hier haben dann Sitzplätze und Stehplätze, Stufen und Rolltreppen, Fenster und Haltegriffe lebensweltliche Bedeutung: Sie sind selbstverständlich und oft unbemerkt, solange sie funktionieren, auffällig und ärgerlich, wenn sie sich als »un-praktisch« erweisen. Ein großstädtischer Berufs-, Studenten- und Schüleralltag besteht nicht zuletzt aus dem Warten und aus den Fahrten im Verkehrs-System. Das System und seine Logik intervenieren permanent, besonders aber im Fall ihrer Erweiterung oder Veränderung in die Lebenswelten und zwingen deren Akteuren ihre Imperative auf. Überall dort, wo das System des Verkehrs gleichsam andere Handlungsfelder quert, etwa die Bereiche des Wohnens und der Erholung, erweist es sich nicht selten als störend: Die Penetration der Stadt durch den Aus- und Fortbau ihres Verkehrssystems erscheint in dieser Perspektive als »Kolonialisierung von Lebenswelten«. Den Stadtbewohnern und insbesondere den Anwohnern der städtischen »Verkehrsadern «, um es organizistisch zu sagen, bleibt dann nur, die Störungen ihres Lebens zu bereden, politische Interventionen wie Bürgerinitiativen zu setzen, oder – im Exzeß – die dem Verkehr verpfändeten Flächen der Stadt mit ihren Körpern zu belagern. Was sie nicht verändern können und was ihnen Nutzen verspricht, müssen sie nolens volens zu ihrem Eigenen machen, indem sie sich seiner attraktiven oder auch nur akzeptablen, nützlichen, notwendigen Aspekte besinnen.

In einer systemtheoretischen Perspektive nach Niklas Luhmann wäre der Stadtverkehr als ein System zu beschreiben, das selbstreferentiell und sich selbst erhaltend seiner systemspezifischen Logik folgt, und seine System-Umwelt, als die hier die Bewohner der Stadt und ihre Besucher erscheinen, solange sie nicht >verkehren<, bloß insoweit zur Kenntnis nimmt, als es seiner eigenen Systemlogik entspricht. Das System ist dann nicht als festgelegte objektive Struktur, etwa als das gesamte Verkehrsnetz der Stadt, vorzustellen, sondern variiert in seiner Ausdehnung je nachdem, welche Stadtbewohner und -besucher gerade zufrieden verkehren oder auch mit einer kritischen Systemerfahrung (Stau, Wartezeit, Zusammenbruch, Lärm usw.) gerade aktive Systemteile sind.

Eine Anschauung von all dem gewinnen wir zunächst am Fall des Wiener Gürtels, dessen Geschichte Petra Schneider und Gerhard Strohmeyer in ihrem Beitrag zu dieser Ausgabe der OeZG umreißen. Dem Betonband, das seit nun etwa hundert Jahren Stadt und Vorstädte an Stelle des früheren Linienwalls umschließt, erschließt und entlastet, nähern sie sich von der Seite der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die sich ihr je eigenes Bild davon machen: Stadtverkehrsplaner und Architekten, spielende Kinder und Vorstadt-Strizzis, Mobilisten und Gürtel-Anwohner. Die ersten hundert Jahre der Gürtel-Rezeption unterteilen sie in das noch vollends optimistische Raumbild der Gründerzeit und eine romantische Periode, als die Sonne noch auf neu gepflanzte Baumalleen schien und sich der Verkehrslärm für die (klein-)bürgerlichen Anwohner in leicht erträglichen Grenzen hielt; in das fordistische Raumbild der fünfziger und sechziger Jahre, als sich die erste vornehme Automobilisierung der Herren rapid zur Massen-Verkehrshölle steigerte, die in den siebziger Jahren für den Westgürtel den Beschluß einer zweigeschossigen Stadtautobahn auf Stelzen evozierte; in Facetten eines noch undeutlichen postfordistischen Raumbildes zuletzt, das sich vorderhand in bescheidenen Projekten wie der Rückgewinnung urbanen Lebensraums unter Stadtbahnbögen, in Grünpflanzungen, ästhetischen Überzeltungen und Kunst-Aktionen ergeht. So wie es für die postmoderne Architektur insgesamt behauptet wird, oszillieren auch die rezenten Raumbilder unsicher zwischen Fragmenten der Gründerzeit, der romantischen und der fordistischen Zeit.

Daß in einer Stadt zu verkehren aber immer auch heißt, auf andere Menschen zu schauen, als Beobachtende und als Beobachtete die soziale Welt erst zu konstituieren, macht uns ein Text bewußt, der eine kleine japanische Erzählung aus dem Jahr 1907 zum Ausgangspunkt nimmt: Alisa Freedmans Strangers on a Commuter Train, die Erzählung über einen Geschäftsmann, der die täglichen Fahrten von und zur Arbeit in der Tokioter U-Bahn benützt, um junge Studentinnen zu beobachten und sein sonst eher eintöniges Leben erotisch zu bebildern: Die U-Bahnfahrt als massenhafte Flaneurie, die Mobilisierung des urbanen Blicks, der, wie könnte es anders sein, an die kulturelle Definition der Körpergeschlechter gebunden ist, oder sollte man in aktiver Wendung besser sagen: in der BilderKörperWelt das maß-gebendste Instrument des doing gender geworden ist.

Georg Schmid analysiert die besondere, von den Passanten und Nutzern kaum je bewußt registrierte Kraft jener Zeichen, die den städtischen Verkehrsmitteln Bus, Tramway, Metro, U-Bahn, Trolleybus, freilich auch den hier nur am Rande erwähnten Autos anhaften, und jener Marker und Codes, die den Benutzern im System der Netze und Linien ihre Wege weisen. Weit entfernt davon, eine Entwicklung im Sinn von Fortschritt zu signalisieren, zeigt die Signaletik ein Hin und Her, einen modischen Tausch der Farben und der Symbole, der von sich aus keinen teleologischen Sinn erzeugen kann. Auch ganze Systeme (Bus oder Bahn, Tram oder Stadtautobahn) können ausgetauscht werden. Dennoch, und das scheint die nicht zu überlesende Pointe des Beitrags, sind die Zeichen mit Geschichte verknüpft. Das Geschichtete der Signaletik könnte uns, so die angedeutete Hoffnung des Autors, einem angemessenen, nicht teleologischen, nicht essentialistischen Begriff von Geschichte näherbringen.

Georg Rigele liefert zahlreiche detaillierte Informationen darüber, wie das Wiener Tramway-, Bus-, U-Bahn- und Schnellbahnsystem in den letzten Jahrzehnten seine Wagen- und Bustypen, Stationen, Gänge, Treppen und Lifte hervorgebracht hat. Aus der Lektüre seines Beitrags wird leicht erkennbar, daß er diese Verkehrsmittel selber benützt, um über sie berichten zu können, und so an seinen eigenen Füßen spürt, daß die Interessen der Benützer gelegentlich außer Acht gelassen werden, wenn ihnen allzu lange unterirdische Fußwege oder stillstehende Rolltreppen in den U-Bahnstationen zugemutet werden. Die Typologie der Wagen und Busse, die Linienführung, die Praktiken der Verkehrs-Bediensteten und die lebensweltlichen Wahrnehmungen ihrer Kunden verschränken sich hier zu einer dichten, auch dicht bebilderten Beschreibung eigener Art.

Was sich nicht zuletzt zum Zweck der Beschleunigung und Bekräftigung des Verkehrs im Lauf von hundert Jahren an Technik-Geschichte aufgeschichtet hat, führt uns Siegfried Mattl am unlängst neu eröffneten Technischen Museum Wien vor Augen. Ob es als Speicher abgelaufener Technik, als Erzählung über den Fortschritt oder als reflexiv-analytischer Ort von Technik als System und kulturelle Praxis funktionieren wird, scheint angesichts teilweise immer noch leerer Ausstellungsflächen eine vorerst nicht beantwortbare Frage.

Christof Parnreiter schließlich stellt im Gespräch mit Saskia Sassen Fragen zu jenen großen Städten, die – so die herausragende amerikanische Stadt-Forscherin – kraft ihrer Konzentrationen von im Wortsinn unbegrenzten Informationstechnologien die alten Grenzen der Nationalstaaten und Staatensysteme seit etwa einem Jahrzehnt immer müheloser überwinden. Werden sie künftig eine neuartige Vernetzung der global cities in der Weltwirtschaft erzeugen können?
 

Reinhard Sieder / Wien Karl Stocker / Graz
 

Inhalte

Petra Schneider/Gerhard Strohmeier
Raumbildung und Raumbilder. Zur Wahrnehmungsgeschichte des Wiener Gürtels

Alisa Freedman
Strangers on a Commuter Train. Female Students and the Salaryman Who Watched Them in Tayama Katai’s Shojo byo

Georg Schmid
Roger Rabbit in Los Angeles. Zur Geschichte der urbanen signaletik, exemplarisch dargelegt anhand der transportmittel

Georg Rigele
Womit die Wienerinnen und Wiener fahren. Tramways und andere öffentliche Transportmittel von 1945 bis zur Gegenwart

Siegfried Mattl
Das neueröffnete Technische Museum Wien

Berhard Kuschey
Entrechtung, Beraubung und Vertreibung der Juden. Wien als Wegbereiter?

Ihre Vorteile:
Versandkosten
Wir liefern kostenlos ab EUR 50,- Bestellwert in die EU und die Schweiz.
Zahlungsarten
Wir akzeptieren Kreditkarte, PayPal, Sofortüberweisung