Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 10. Jg., Heft 1, 1999

Hochschulen im Nationalsozialismus
Hochschulen im Nationalsozialismus
 
Im April 1946 forderte das Österreichische Unterrichtsministerium die Rektorate aller Universitäten und Hochschulen des Landes auf, Daten über den Beitrag von Hochschulangehörigen zum Widerstand gegen das NS-Regime zu sammeln. Die Informationen sollten im Zuge der Erstellung eines amtlichen "Rotbuches" über den NS-Terror 1938-1945 verwertet werden. Das Ministerium vergaß in seinem Erlaß nicht, explizit darauf hinzuweisen, daß für Widerstandshandlungen gegen die deutsche Besatzung in Österreich andere Maßstäbe gelten sollten als für Akte der Resistenz in vom Dritten Reich okkupierten nichtdeutschsprachigen Ländern. Offenbar wollte man die Hochschulleiter mit dieser Feststellung dazu ermutigen, auch bescheidenere Äußerungen des Protests gegen die nationalsozialistische Herrschaft zu dokumentieren. Das Resultat der Rückmeldungen scheint diese Vermutung zu bestätigen. Wer immer von den Professoren und Assistenten sich in den Kriegsjahren einen Hauch von Nonkonformismus geleistet hatte – egal, ob aus prinzipieller Mißbilligung der braunen Diktatur oder aus anderen, weniger politischen Gründen – konnte damit rechnen, als "Widerstandskämpfer" aufzuscheinen.

In Wahrheit lagen die Dinge viel komplizierter, wie die zwei Österreich gewidmeten Beiträge zum vorliegenden Heft über "Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus" illustrieren. Den Anlaß zur Wahl dieses Themenschwerpunktes bot das hundertjährige Jubiläum der Wiener Wirtschaftsuniversität im Oktober 1998, mit deren Geschichte sich der Beitrag von Peter Berger auseinandersetzt. Als K. K. Exportakademie zwei Dezennien vor dem Untergang der Habsburgermonarchie gegründet (deren Machtaspirationen in Südosteuropa und in der Levante durch eine verbesserte Kaufleuteausbildung gefördert werden sollten), leistete die 1919 in "Hochschule für Welthandel" umbenannte Anstalt ihren Beitrag zur deutschnationalen Prägung des akademischen Lebens in der Ersten Republik und später, als der Anschluß ein Fait accompli geworden war, zur Ostexpansion Hitlerdeutschlands. In der Ära des Austrofaschismus 1934-1938 gehörten prominente Vordenker des Korparatismus und ständischen Universalismus zum Professorenkollegium der "Welthandel", Leute, die von den Nazis "hinausgesäubert" und nach 1945 wieder an die Hochschule zurückgeholt wurden. Daß sie trotz ihrer erwiesenen antidemokratischen Einstellung in den dreißiger Jahren bei den Bildungsverantwortlichen der Zweiten Republik kaum mit Bedenken rechnen mußten, gehört ebenso zu den Eigentümlichkeiten des Österreichischen Umgangs mit der Vergangenheit wie der Umstand, daß 1948, als die Hochschule für Welthandel fünfzig Jahre alt wurde, eine Festschrift erschien, die alle Protagonisten der nationalsozialistischen Ära im selben Atemzug lobte: den einzigen in Nazihaft umgekommenen Professor ebenso wie die engagiertesten Nationalsozialisten des Lehrkörpers (letztere wegen ihres "Widerstands" gegen die Einführung deutscher Studienpläne und Prüfungsnormen).

Daß gerade bei fanatischen Parteigängern Hitlers unter den "ostmärkischen" Universitätsprofessoren die Enttäuschung über die Arroganz der deutschen Hochschulbehörden zum Entstehen einer Art von Österreich-Nostalgie führte, zeigt Juliane Mikoletzky in ihrem Beitrag über die Technische Hochschule in Wien. Vor allem die Aushöhlung der institutionellen Autonomie der TH durch das NS-Regime löste nostalgisch gefärbte Mißfallenskundgebungen aus, die freilich nicht mit grundsätzlicher Abkehr von den Zielen des Nationalsozialismus oder gar mit Bedauern über die 1938 erfolgte Tilgung Österreichs von der europäischen Landkarte gleichgesetzt werden dürfen. Die "Hoffnung auf eine großartige Zukunft" unter dem Hakenkreuz wurde weiter gepflegt. Erst die Apriltage 1945 machten aus unzufriedenen Nationalsozialisten Österreichische Patrioten.

In den Niederlanden, wo die fünfjährige deutsche Präsenz von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung als aufgezwungene Fremdherrschaft ohne jede sprachliche oder kulturelle Legitimation empfunden wurde, fand akademischer Widerstand ganz andere Ausgangsbedingungen vor als in Österreich. Er erreichte (vor allem auf der Ebene der individuellen Aktionen von Professoren, Dozenten und Studenten) auch eine andere Größenordnung, wie aus Peter Jan Knegtmans Beitrag über die Universität von Amsterdam ersichtlich wird. Daß es die niederländischen Universitäten in toto dennoch verabsäumten, zur Speerspitze der politischen und moralischen Resistenz gegen den Nationalsozialismus zu werden, lag an einer spezifischen Art von Berufsethik, die den weltabgewandten Charakter wissenschaftlicher Tätigkeit betonte. In einem der berührendsten niederländischen Romane über die Zeit von 1940- 1945, Maarten t’Harts Die Netzfiickerin, bekommt der Held der Erzählung, der eine Dissertation über Antisemitismus in der deutschen Philosophie einreichen will, von seinem Professor den Rat, kein derart praktisches, sondern lieber ein epistemologisches Thema zu wählen. Gewollte Distanz zu aktuellen Ereignissen – auch wenn sie nicht aus Konfliktscheu, sondern im Namen "reiner Wissenschaftlichkeit" angestrebt wurde – machte aus den Hohen Schulen der Niederlande, solange sie ihren Betrieb aufrecht halten konnten, tendenziell anachronistische Elfenbeintürme (wo nichtsdestoweniger bewundernswerte Akte der Solidarisierung mit den NS-Opfern gesetzt wurden).

Ein Beitrag dieses Hefts hat nicht unmittelbar, wohl aber am Rande mit dem Thema "Universitäten im Nationalsozialismus" zu tun. Die Antrittsvorlesung von Mitchell G. Ash am Institut für Geschichte der Universität Wien thematisiert im Rahmen eines Überblicks über die Wissenschaften in der Geschichte der Moderne unter anderem auch die wechselseitigen Beziehungen von epistemologischen und politischen Umbrüchen. Der auch für das Schwerpunktthema dieses Heftes relevante Befund von Ash lautet, daß Wissenschaften beim Arrangement mit politischer Macht grundsätzlich zwei Optionen haben: Sie können eine vorweg existierende inhaltliche Affinität zwischen ihren Zielen und Methoden und der jeweils vorherrschenden Weltanschauung behaupten oder – ganz konkret – Forschungsleistungen als Mittel zur Erreichung politischer Ziele anbieten. Belege dafür lassen sich in den Aufsätzen über die Wiener Technische Hochschule und die Hochschule für Welthandel reichlich finden.

Peter Berger, Wien

Inhalte

Peter Berger
Die Wiener Hochschule für Welthandel und ihre Professoren 1938-1945

Juliane Mikoletzky
„Mit ihm erkämpft und mit ihm baut deutsche Technik ein neues Abendland“ – Die Technische Hochschule in Wien in der NS-Zeit

Peter Jan Knegtmans
Die Universität von Amsterdam unter deutscher Besatzung

Mitchell G. Ash
Die Wissenschaften in der Geschichte der Moderne

Götz Aly, Werner Lausecker, Albert Müller
Historiographischer Optimismus

Werner Lausecker
Bericht über einige Wahrnehmungen. Zur Sektion „Deutsche Historiker im Nationalsozialismus“ am Deutschen Historikertag

Erich Landsteiner
Microstoria und ,longue durée‘. Zu Andreas Suters Entwurf einer Sozialgeschichte des politischen Ereignisses am Beispiel des Schweizerischen Bauernkriegs von 1653

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