Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 8. Jg., Heft 1, 1997

Geschichte beobachten
Geschichte beobachten
 
Verspätete Geburtstagsgeschenke sind zum Zeitpunkt ihrer Übergabe – in einer Variation zu Nestroy – eigentlich gar keine. Präsente ex post stellen aber in gewissem Sinn ein Standardmetier von Historikern dar, das per definitionem nie die Unmittelbarkeit seiner Anlaßfälle erreicht. Und so gesehen wird es stimmig, wenn das vorliegende Heft erst im nachhinein, nämlich fast ein halbes Jahr nach dem 85. Geburtstag von Heinz von Foerster am 13. November 1996, als kleines historisches Gastgeschenk überreicht wird.
 
Mit diesem Heft ist aber auch ein vom Standpunkt der Historie gesehen eher untypisches Unterfangen zumindest der Form nach abgeschlossen, das sich über eine hochriskante Serie von Experimenten vollzog. Der Experimentalcharakter dieses Heftes resultiert schon aus der simplen Tatsache, daß ein Anwendungsdialog zwischen dem radikalen Konstruktivismus und der Geschichtswissenschaft, sieht man von einzelnen Beiträgen ab, bisher kaum systematisch geführt wurde. Im einzelnen lassen sich die folgenden Konstruktivismus-Tests anführen:

Zunächst wurde als erster Versuch ein von den Ergebnissen her schwer absehbares Gespräch mit dem Spiritus rector des radikalen Konstruktivismus, Heinz von Foerster, geführt, der mit Fragestellungen konfrontiert wurde, mit denen er sich bis dahin wenig auseinandergesetzt hatte, weil sie zum Kern geschichtsmethodologischer Erörterungen – fernab von der Bio-Kybernetik – gehören.

Ein zweites Experiment betraf die Frage, wie sich ein Forschungsprogramm, das sich primär um die Bereiche von Kognitionsprozessen und epistemologischen Fragestellungen entwickelte, von seinen Grundbegrifflichkeiten innerhalb eines geschichtswissenschaftlichen Kontextes bewähren kann.

Ein weiterer Versuch widmete sich der Geschichte des radikalen Konstruktivismus selbst und seinem Verhältnis zu entwickelten geschichtswissenschaftlichen Methodologien. Auch dieses Unternehmen erwies sich bis zuletzt angesichts von Unvertrautheiten und latenten Möglichkeiten eines Déjà-vu in seinen Ergebnissen und seinem cash value (Wilfried Sellars) als nur schwer abschätzbar.

Und ein letztes Experiment war schließlich der Frage vorbehalten, welche ,komplexitätsreduzierenden‘ Fragestellungen und Heuristiken sich eröffnen, um die legitime Vielfalt und Mannigfaltigkeit nicht nur von Daten, sondern auch von Modellen oder von Forschungsinteressen mit Gewinn auf einer ,zweiten Stufe‘ weiter bearbeiten zu können. Über solche systematischen Forschungen zweiter Stufe ließen sich bislang allerdings kaum, sieht man einmal vom Label ab, brauchbare und gestaltbare Hinweise finden.

Mit dieser konstruktivistischen Versuchsstaffel insgesamt und den mittlerweile kodifizierten Testresultaten sollte für die Leserinnen und Leser abschätzbar werden, ob und in welchem Maß sich das Studium des radikalen Konstruktivismus von Nutzen und Nachteil für die Geschichtswissenschaften erweist. Folgende Zielsetzungen waren jedenfalls für die Gestaltung des vorliegenden Heftes maßgeblich:

Unter dem mittlerweile notorischen Titel der "Anschlußfähigkeit" sollte auf zwei an sich mögliche, aber derzeit noch kaum vollzogene "strukturelle Kopplungen" verwiesen werden, nämlich einerseits auf die Verbindungen zwischen der geschichtswissenschaftlichen Methodologie und radikalem Konstruktivismus und andererseits auf die Applikationen von komplexen Modellen auf genuin historische Domänen. Dieses Heft möchte beitragen, auf überschaubare und – wie wir hoffen – verständliche Weise kognitive Nähen und Distanzen zwischen diesen Feldern sichtbar zu machen.

Eine andere Zielsetzung betrifft, quasi als Selbstreferenz in fremder Sache, die Historisierung des radikalen Konstruktivismus selbst – weniger in bezug auf seine unmittelbare Geschichte seit den 1950er Jahren, sondern auf eine durchaus längerfristige Perspektive.

Ein weiterer Zweck dieser konstruktivistischen Einlassungen besteht darin, die möglichen Parallelitäten, Überschneidungen, aber auch die Simplifizierungen zwischen den geschichtswissenschaftlichen Erörterungen seitens radikaler Konstruktivisten und den zuweilen sehr sophistizierten Diskussionsniveaus in den Geschichtswissenschaften der Gegenwart nicht zu eliminieren. Damit mag nicht selten ein "Vor eig’nem Tische las man’s besser" verbunden sein; aber genau solche thematischen Interfaces erlauben es unter Umständen auch, einen Dialog auf schnelle und für alle Seiten gewinnbringende Form einzuleiten.

Und schließlich sollen auch die Geschichtswissenschaften mit jener Fülle an Paradoxien konfrontiert werden, mit denen seit einigen Jahrzehnten die Kognitionswissenschaften und – oft in ihren Luhmannschen Schwundformen – auch die Sozialwissenschaften versorgt wurden. Auf die Geschichte und die Geschichtswissenschaften bezogen, können Paraphrasen auf einige Paradoxien und Rätsel aus dem reichen Foersterschen Fundus folgendermaßen formuliert werden:

Historischer Realismus: Die Geschichte ist die Ursache, ihre Beschreibung die Folge.

Historischer Konstruktivismus: Die Beschreibung ist die Ursache, die Geschichte die Folge.

Historiker organisieren die Geschichte, indem sie sich selbst organisieren.

Die Geschichtswissenschaft ist so organisiert, daß sie sich eine stabile Vergangenheit errechnet.

Der Historiker, nicht die Quelle, bestimmt die Bedeutung eines Textes.

Der Zufall entsteht aus der Unmöglichkeit, historische Prozesse unfehlbar zu induzieren.

Historische Notwendigkeit verlangt nach der Möglichkeit, Prozesse unfehlbar zu deduzieren.

Mit diesen Vorüberlegungen, Zielformulierungen und Paraphrasen können wir die eigentliche Übersicht über die Beiträge beginnen. Ernst von Glasersfeld, ohne dessen vielfältige Beiträge der radikale Konstruktivismus wohl nicht einmal seinen Namen hätte, verweist unter einem fast schon wieder irreführenden Titel Kleine Geschichte des Konstruktivismus auf dessen lange Geschichte. Wenn sich die hier gestifteten Traditionen nicht zu Kontinuität verdichten konnten, dann unter anderem deshalb, wie von Glasersfeld betont, weil konstruktivistisches Denken gegenüber "Machthaber(n) in allen Sparten" skeptisch bleibt.

Siegfried J. Schmidts "Gesprächsangebot" kann als Ko-Thematisierung einer Reihe von Begriffen gelesen werden, die in konstruktivistischen wie geschichtswissenschaftlichen Diskussionen eine zentrale Stellung einnimmt: Beobachtung, Gedächtnis, Erinnern, Vergessen, Erzählen, Zeit.

Die Traditionen der Historik stehen im Mittelpunkt der Lesarten und Analysen Gebhard Ruschs. Aus der reichen Vielfalt seiner Argumente sei hier die Re-Interpretation des Chladenius’schen "Sehepuncktes" als eine Art Prototyp einer Beobachterinstanz herausgegriffen, die der in den letzten beiden Jahrzehnten so intensiv geführten Debatte über die Aufklärungshistorie eine neue, diesmal konstruktivistische Wende jenseits von Objektivität oder Parteilichkeit gibt.

Die Vielfalt der Welt des Historischen konfrontiert Karl H. Müller mit der Multiplizität an Modellen, mit deren Hilfe sie beschrieben werden kann. Müller greift von Foersters Erfindung der Zweiten Ordnung konsequent auf, indem er uns zu einem Modell von Modellen führt. Die konstatierten Modellierungsmannigfaltigkeiten bieten interessante Einsichten in das Problem der Reversibilität und Irreversibilität historischer Prozesse.

Christian Fleck und Albert Müller versuchen sich als Beobachter ihrer Disziplinen (Soziologie und Geschichte), deren wechselseitigem Verhältnis und einiger spezifischer Differenzen, die sich aus der Konstruktion einer Welt ,dort draußen‘ und einer Welt ,von gestern‘ ergeben. Die jeweilige Art des Materials, das für die Weltkonstruktionen herangezogen wird, ,Daten‘ und ,Quellen‘, und sein disziplinabhängiger unterschiedlicher Stellenwert werden für spezifische Kommunikationsprobleme zwischen Soziologen und Historikern verantwortlich gemacht.

Das Kernstück dieses Heftes aber steuert das Geburtstagskind selbst bei. In einem Gespräch mit den Herausgebern dieses Heftes gibt Heinz von Foerster eine Fülle von Anregungen, die nicht bloß Historikerinnen und Historikern weitere Denkmöglichkeiten eröffnen können.

Radikaler Konstruktivismus hat vor allem im letzten Jahrzehnt eine lange Reihe ganz unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen geistes-, sozial-, rechts- und naturwissenschaftlicher Prägung stark beeinflußt. Er gehört damit zu einem der neueren Erkenntnismodelle jenseits bloß disziplingebundener, partikularer Forschungsinteressen. Ob sich gerade die Geschichtswissenschaften weiterhin so unerzwungen resistent gegen die Rezeption radikalkonstruktivistischer Ansätze verhalten werden, gehört zu den prinzipiell unentscheidbaren Fragen, welche ja bekanntlich nur von uns – den Historikerinnen und Historikern – entschieden werden können.

Albert Müller u. Karl H. Müller, Wien

Inhalte

Ernst von Glasersfeld
Kleine Geschichte des Konstruktivismus

Siegfried J. Schmidt
Geschichte beobachten. Geschichte und Geschichtswissenschaft aus konstruktivistischer Sicht

Gebhard Rusch
Konstruktivismus und die Traditionen der Historik

Karl H. Müller
Die Konstruktion komplexer historischer Modelle. Second-Order-Explorationen

Christian Fleck/ Albert Müller
,Daten‘ und ,Quellen‘

Heinz von Foerster/Albert Müller/Karl H. Müller
Im Goldenen Hecht. Über Konstruktivismus und Geschichte

Ernst Hanisch
Bin ich ein Antisemit?

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