Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7. Jg., Heft 1, 1996

Wissenschaftsgeschichte - Wissenschaftsordnung
Wissenschaftsgeschichte – Wissenschaftsordnung
 
Es ist ein gut beobachtbarer Umstand, daß das weite Feld "Wissenschaft" in sozialgeschichtlichen Untersuchungen (und gar: gesellschaftsgeschichtlichen Synthesen), aber auch in Arbeiten zur Kulturgeschichte nur relativ selten und relativ marginal thematisiert wird. Dies läßt sich für Österreich – auch für diese Zeitschrift -, aber ebenso für den deutschsprachigen Raum insgesamt behaupten, ohne eine detaillierte Zitationsanalyse heranziehen zu müssen. Weniger leicht als die Konstatierung dieses Umstandes fällt seine angemessene Erklärung. Werden Wissenschaften nicht als ein Teil der Gesellschaft angesehen? Haben historische und gegenwärtige Wissenschaftsbetriebe nicht ausgeprägte und gut sichtbare soziale Strukturen, die sich vor allem aus unterschiedlichen Machtpotentialen ergeben, ebenso wie eine recht spezifische Kultur? Wenn diese zweifellos ein wenjg naiven Fragen erwartungsgemäß positiv beantwortet werden können, fällt die Erklärung der weitgehenden Ignoranz gegenüber dem Feld Wissenschaft umso schwerer.  Aus vielen möglichen Erklärungsfaktoren sollen hier nur einige wenige herausgegriffen werden.
 
– Wissenschaftsgeschichte wurde vom Mainstream der Geschichtswissenschaften relativ lange ignoriert. Erst vergleichsweise spät – im wesentlichen seit den 70er Jahren – konnte sie sich in Österreich im Universitätsrahmen – meist aufgrund bemerkenswerter organisatorischer Einzelinitiativen – institutionell etablieren. Dafür wurde wohl ein doppelter Preis bezahlt: Einerseits wurde eine scharfe Abgrenzung des Gegenstandsbereichs gegenüber den bereits etablierten Bereichen vorgenommen, was intensive Kommunikation und wechselseitige Inspiration tendenziell behinderte, andererseits wurde ein prononcierter Methodenkonventionalismus favorisiert, der sich – wohl um Akzeptanz sicherzustellen – zumeist auf den alten Positivismus historistischer Façon beschränkte. Auch dies beeinträchtigte Interaktionen mit den sich gerade im Methodenbereich öffnenden Richtungen vor allem sozial – und kulturgeschichtlicher Provenienz.

– Wissenschaftsgeschichte setzt, wird sie kritisch betrieben, Wissenschaft immer wieder aufs Spiel. Daß beispielsweise der Wissenschaftsbetrieb generell Rationalitätskriterien unterliege, kann auf der Basis wissenschaftshistorischer Untersuchungen gutenteils in Zweifel gezogen werden. Aber nicht nur so wird die oft eifrig gehütete Reputation der Wissenschaften kontaminierbar; gerade auch im zeithistorischen Kontext werden Hinweise auf die politische Involvierung von Wissenschaftern und Institutionen der Wissenschaft immer noch als allzu brisant angesehen. Immer wieder wurden kritische wissenschaftsgeschichtliche aber auch wissenschaftssoziologische Analysen als eine Art Bruch des Zunftgeheimnisses angesehen, statt diese systematisch als eine mögliche Grundlage zur Selbstreflexion, zu der sich Wissenschaften ja verpflichtet fühlen, zu nutzen.

– Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftssoziologie oder auch Wissenschaftsforschung haben ein spezifisches Problem gemeinsam: Die Beobachter des Wissenschaftssystems sind in diesen Fällen zwangsläufig Teil des Systems, das beobachtet werden soll, und eine – klassischen Methodologien folgend – Meta-Ebene, ein externer Standpunkt, von dem gleichsam aus sicherer Entfernung beobachtet werden könnte, ist hier kaum konstruierbar. Dieses Dilemma wurde gerade in der Wissenschaftsgeschichte, die im eigentlichen Wortsinn als Selbstthematisierung verstanden werden sollte, immer wieder sichtbar. Für sie sind Jubiläen möglicherweise noch mehr Anlaß für Forschungs- und Publikationstätigkeit als in anderen Bereichen der Geschichtswissenschaft. Und dies heißt auch: Nicht Beobachten (oder Kritik), sondern Konsekration waren ihre so oft erbrachten wie oft erwünschten Leistungen für das System Wissenschaft.

Dieses Heft der ÖZG beschränkt sich auf Themen aus der Wissenschaftsgeschichte Österreichs im 20. Jahrhundert, womit – nicht zuletzt – dem wissenschaftsgeschichtlichen Defizit der österreichischen Zeitgeschichte wie dem zeitgeschichtlichen Defizit der österreichischen Wissenschaftsgeschichte Rechnung getragen werden soll.

Karl H. Müller beschäftigt sich mit dem Problem wissenschaftlicher Kreativität und zieht Vergleiche zwischen der Ersten und der Zweiten Republik. Die kreative Verwendung von Kreativitätstheorien läßt dabei gerade auch die der Zweiten Republik langsam aber sicher lieb gewordenen "Geistesgrößen" der Ersten in neuen Kontexten erscheinen. Auch wenn die Geschichte der kreativen Leistungen der Wissenschaften der Ersten Republik sich nicht wiederholen mag, formuliert Müllers Beitrag eine Reihe von Voraussetzungen für neue – und das heißt zukünftige – kreative Schübe.

Ulrike Felts Beitrag arbeitet an der Zeit vor 1938 das prekäre Verhältnis von "Wissenschaft" und "Öffentlichkeit" anhand von Problemformulierungen, die auch für die Gegenwart von Bedeutung sind, heraus: Wie und warum wird Wissenschaft kommuniziert, wenn dies nicht wissenschaftsintern geschieht? Welcher Institutionen und welcher Medien (im weitesten Sinn) bedarf es, um einen Kommunikationsfluß zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu bewerkstelligen? Wer kann und soll diese intermediären Stellen im Kommunikationsprozeß besetzen, und wie kann und soll dieser Prozeß gesteuert werden?

Der mehrfache Systembruch (nicht nur) in den Wissenschaften von der Ersten zur Zweiten Republik ist Thema des Beitrags von Christian Fleck, wobei die ersten Jahre nach 1945 den Schwerpunkt bilden. Flecks institutionenhistorische Analyse stellt die für alle weiteren Bereiche zentrale Frage nach den Strategien der Wiederbesetzung von ProfessorensteIlen, die nach der notwendig gewordenen politischen "Säuberung" nach 1945 zur Disposition standen. Während die allgemeine Richtung und das Ergebnis der damaligen Berufungspolitik vielen in groben Zügen bekannt sind – jüdische und "linke" Wissenschaftsemigranten konnten nicht zurückkehren, überproportional viele Stellen wurden von Vertretern konservativer Katholizismen aber auch von "minderbelasteten" NS-Mitläufern besetzt – bietet Flecks genaue und auf bisher unbekannten Quellen basierende Analyse einen Einblick ins Innere dieses folgenreichen Prozesses.

Friedrich Stadler unternimmt es schließlich, auf der Basis einer intensiven Auseinandersetzung mit theoretischen Fragen ein Forschungsprogramm zur Diskussion zu stellen und zu begründen, wie Wissenschaft konsequent zum Thema der österreichischen Zeitgeschichte gemacht werden könnte. Die traditionelle Dichotomie von Wissenschaftstheorie, die nach Geltung von Erkenntnis, und Wissenschaftsgeschichte, die nach deren Entstehungszusammenhang fragt, kann zwar nicht aufgelöst, ein ganz pragmatischer Weg aber vorgeschlagen werden. Kurz, Stadler versucht eine Historische Wissenschaftsforschung zu entwerfen, in der Geltung und Werden von wissenschaftlicher Erkenntnis zugleich zum Thema gemacht werden können.

Im Forum wird die Debatte um Ernst Hanischs "Der lange Schatten des Staates" fortgeführt (vgl. dazu ÖZG 1/95,3/95,4/95). Diesmal wird das Buch von zwei geschichtswissenschaftlichen "Laien", die Hanisch ja explizit als intendierte Rezipienten apostrophierte, diskutiert. Weder die Filmemacherin und Autorin Ruth Beckermann noch der Physiker und Ministerialrat im Wiener Wissenschaftsministerium Wolfgang Reiter haben im engeren Sinn kontinuierlichen Anteil am geschichtswissenschaftlichen Betrieb. Diesen Beitrag in der ÖZG zu veröffentlichen, war in der Redaktion nicht unumstritten. Aber selbst die bisweilen polemischen Formulierungen und zugespitzten Hypothesen stehen hier in einem Argumentationszusammenhang, der die Diskussion insgesamt weiterführt und um neue Fragen bereichert, die über den Anlaß, Hanischs Buch, hinausführen und an weitere Teile der Disziplin gestellt werden können.

Das Problem historischer Ausstellungen bleibt ebenfalls in Diskussion. Ernst Langthaler setzt sich für die ÖZG in schon bewährter Weise mit einem der einschlägigen Events des letzten Jahres auseinander.

Ein Gespräch zwischen Helga Nowotny und Albert Müller thematisiert noch einmal eine der Fragen, die dieses Heft durchziehen: Was denn die Wissenschaftsgeschichte von der Wissenschaftsforschung lernen könnte. Darüberhinaus wird eine Reihe von Problemen der gegenwärtigen und zukünftigen Wissenschafts- und Universitätssysteme zur Debatte gestellt.

Die Leserinnen und Leser werden bemerken, daß der Anteil an professionellen Historikerinnen und Historikern unter den Autoren dieser Ausgabe einer Zeitschrift, die sich den Geschichtswissenschaften widmet, vergleichsweise gering ist. Der Unterzeichnete hält eine solche Komposition jedenfalls für eine unter mehreren Möglichkeiten, den inter- und transdisziplinären Ansprüchen des Programmes dieser Zeitschrift praktisch Genüge zu tun.

Albert Müller, Wien

Inhalte

Karl H. Müller
Sozialwissenschaftliche Kreativität in der Ersten und in der Zweiten Republik

Ulrike Felt
„Öffentliche“ Wissenschaft – Zur Beziehung von Naturwissenschaften und Gesellschaft in Wien von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Ersten Republik

Christian Fleck
Autochthone Provinzialisierung – Universität und Wissenschaftspolitik nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich

Friedrich Stadler
Wissenschaft und Österreichische Zeitgeschichte

Helga Nowotny/ Albert Müller
Hybride Wissenschaften: Wissenschaftsforschung und Wissenschaftsgeschichte

Ruth Beckermann/ Wofgang Reiter
Heimat-Fibel des Kleinen Mannes oder Der lange Schatten der Provinz

Ernst Langthaler
Die Mythen und ihre Jäger II – Reflexionen zur Ausstellung „Menschen nach dem Krieg“

Ihre Vorteile:
Versandkosten
Wir liefern kostenlos ab EUR 50,- Bestellwert in die EU und die Schweiz.
Zahlungsarten
Wir akzeptieren Kreditkarte, PayPal, Sofortüberweisung