Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 6. Jg., Heft 1, 1995

Österreich im Kopf
Österreich im Kopf
 
Mit Jahreswechsel begann in Österreich eine zweijährige Phase öffentlichen historischen Gedenkens und Feierns, in deren Mittelpunkt zwei Anniversarien stehen: 1995 jährt sich zum fünfzigsten Mal die Wiederherstellung Österreichs als Zweite Republik nach dem Sieg der Alliierten über das NS-Regime und das "Dritte Reich"; 1996 wird dann das tausendjährige Jubiläum der erstmaligen urkundlichen Erwähnung des Namens ,Österreich‘ (,Ostarrîchi‘) begangen werden. Wir stehen also am Beginn einer Periode, die ausreichend Gelegenheit geben wird, lokale Geschichtskulturen und Geschichtsmentalitäten ,im Feld‘ zu studieren, zumal es dazu schon in den letzten zwei bis drei Jahren einiges zu beobachten gab.
 
Immer wieder erstaunlich, irritierend und längst nicht ausreichend erforscht erscheint dabei jene Metaphysik der runden Zahl, die die Logik der Zeitmessung und zwar die diskrete der Annalistik wie die stetige der klassischen Physik – sozial und kulturell unterläuft, um nicht zu sagen: korrumpiert. Nicht gerade eine verschwindende Minderheit unter professionellen Historiker/inne/n lehnt es allerdings ab, gegen diese gesellschaftliche Konvention, die den Interessen einer problemorientierten Geschichtswissenschaft ja einigermaßen widerspricht, anzutreten, sondern versucht – nicht ohne Erfolg – damit Arrangements zu treffen.
 
Bei früheren Anlässen, so konnten wir feststellen, waren historische ,Jubiläen‘ gerne Medien für ritualisierte Formen der Selbstdarstellung, die ganz klar beanspruchten, Selbstdarstellung des Kollektivs zu sein und das Wir-Gefühl zu stimulieren, indem ausgestellte, geschriebene, inszenierte Geschichte als (mehr oder minder) verbindlich für das Publikum erklärt wurde. Darin unterscheidet sich Jubiläums-Geschichtsschreibung, trotz aller damit möglicherweise verbundenen wissenschaftlichen Bemühungen und Leistungen, vom ,normalen‘ Diskurs der Geschichtswissenschaften, die ja gehalten sind, ihre Ergebnisse der Kritik auszusetzen.
 
Das vorliegende Heft widmet sich, und dies ist durchaus ungewöhnlich für diese Zeitschrift, fast ausschließlich Österreich-zentrierten Themen. Die Beiträge gehen in je unterschiedlicher Weise dem blinden Fleck (von Foerster) kollektiver Identitäten nach. Gerhard Botz und Albert Müller beschäftigen sich mit Problemen der in den letzten Jahren häufig, aber nur zum Teil kontrovers diskutierten Identität der Zweiten Republik. Neben inhaltlichen Annäherungen an die wechselnden Identitäten wird vor allem von der These ausgegangen, daß die Möglichkeit, Identitätskonstruktionen zu behaupten, eng damit zusammenhängt, Differenz auszubilden, die die Form einer Identität bestimmt. Die Unterscheidungen wir/die anderen, für das "österreichische Selbstgefühl" (Karl Kraus) schon lange von großer Bedeutung, spielt dabei sicher die primäre Rolle, bedeutsam erscheint aber auch die jeweilige Unterscheidung Gegenwart/Vergangenheit, die zum ,historischen Bewußtsein‘ gerinnt. Die ,Schlüsseljahre‘ der österreichischen Zeitgeschichte bilden dabei ,Widerlager‘, auf denen Identitäten ruhen.

Peter Burke hat vor einigen Jahren im Zuge einer Analyse des von Maurice Halbwachs geprägten Begriffs des ,kollektiven Gedächtnisses‘ die These aufgestellt, daß dem (selektiven) Vergessen, das er als ,soziale Amnesie‘ beschrieb, ebenso große Bedeutung zukomme wie dem kollektiven Erinnern. Mit genau diesem Problem beschäftigt sich Meinrad Ziegler in seinem Beitrag über das ,Vergessen‘ der NS-Periode in Österreich. Ziegler bemüht neben soziologischen auch ethnopsychoanalytische Ansätze, um zu erklären, wie es zu jener ganz spezifischen Lückenhaftigkeit des ,österreichischen Gedächtnisses‘ kommen konnte.
 

Auch wenn das ,Ganze‘ nicht mit der Summe seiner Teile verwechselt werden darf, spielten Teil-Identitäten in der Geschichte Österreichs stets eine erhebliche Rolle. Laurence Cole befaßt sich mit einer ihrer regionalen Ausprägungen: mit dem ,Landesbewußtsein‘ und seinem Verhältnis zu (deutsch-) nationaler Identität und zum Habsburg-Patriotismus bis zum Anfang des Ersten Weltkriegs. Die detaillierte Analyse eines Festes wie der Tiroler Jahrhundertfeier (1909) erweist nicht bloß den ritualhaften Charakter kollektiven historischen Gedenkens, sondern auch die ideologisch amalgamierende, mehrere zunächst widersprüchliche Identifikationsmuster zusammenführende, wie auch formierende Funktion der ,Erfindung der Tradition‘ , hier des spezifisch "Tirolischen".
 

Mit der gegenwarts(historiographie)geschichtlichen Dimension von Geschichtsschreibung als intentionalem Akt der Identitätsstiftung befaßt sich nicht zuletzt der Beitrag der ÖZG-Redaktion über Ernst Hanischs Österreichische Gesellschaftsgeschichte. Dies ist aber bloß eine der Dimensionen der Auseinandersetzung mit diesem – aus ganz verschiedenen Gründen – großes Interesse hervorrufenden Buch. Kaum eine Arbeit hat zuletzt mehr Anlaß zu Diskussionen geboten als dieser Versuch einer Synthese der österreichischen Zeitgeschichte.
Die ÖZG wird in den nächsten beiden Jahren der Problematik der Anniversarien und der dabei zentralen Rolle der österreichischen Geschichtsforschung und Historiographie ihre kritische Aufmerksamkeit widmen.

Albert Müller

Inhalte

Gerhard Botz/Albert Müller
Identität/Differenz in Österreich. Zu Gesellschafts-, Politik- und Kulturgeschichte vor und nach 1945

Meinrad Ziegler
Erinnern und Vergessen. Zum Umgang mit dem Nationalsozialismus in der Zweiten Republik

Laurence Cole
Province and Patriotism: German National Identity in Tirol, 1850-1914

ÖZG-Redaktion
Der lange Schatten der Historiographie oder: Barocke Aufklärung. Ernst Hanischs „Der lange Schatten des Staates“. Eine Kritik

Siegfried Mattl
Österreich im Kopf und in den Beinen: Opernball

Wolfgang Maderthaner
Österreich in den Beinen und im Kopf: Fußball

Gert Dressel/ Katharina Novy
Frei-sprechen. Lebensgeschichtliche Bildungsarbeit mit alten Menschen

John Komlos
Die fünfundzwanzigste Lektion für einen streitbaren Rebel(len)

Wolfgang Ernst
Die Unschreibbarkeit von Imperien. Theodor Mommsens römische Kaisergeschichte (und Heiner Müllers Echo)

Franz X. Eder
Internet für Historiker, Teil I

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