Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 5. Jg., Heft 1, 1994
Das Fremde vernichten
Die in diesem Heft geführte Auseinandersetzung mit den Kategorien ,Ethnie‘, ,Nation‘ und ,Nationalismus‘ verdeutlicht, wie unpassend ein objektivistischer Zugang in den Geschichtswissenschaften, aber auch in der Ethnologie und in der Politikwissenschaft ist. Diese Schlüsselbegriffe meinen soziale Wirklichkeiten, denen Akte der Selbst- und Fremddefinition, des ausdrücklichen Bekenntnisses, der Ein- und Ausgrenzung als sie konstituierende Deutungen von Individuen und Kollektiven eingeschrieben sind. Ethnien und Nationen sind – in diesem Sinn – imaginierte Gemeinschaften. Ob eine vornationale ethnische Kollektividentität eine nationale Bewegung und darüber eine Nation hervorzubringen vermag, hängt – so Stefan Troebst in seinem programmatischen Aufsatz – davon ab, ob sie von einer politisch aktiven Elite mobilisiert werden kann. In einem solchen Prozeß der Konstituierung nationalen Bewußtseins übernimmt Historiographie die Aufgabe, mittels Narration die Deckung von ,Volk‘, ,Land‘ und ,Geschichte‘ herbeizuschreiben. Dies begründet die in neu entstehenden (oder renovierten) Nationalbewegungen und Nationalstaaten häufig beobachtbare Nähe von Historikern zum Zentrum der politischen Macht.
Die Transformation der postkommunistischen Staaten seit dem Ende der achtziger Jahre zeitigt offensichtlich dort die höchste Konflikt- und Gewalthaftigkeit, wo ethnische Strukturen und eine Mehrzahl von konkurrierenden Nationalismen die überkommenen Staats- und Verwaltungsgrenzen zu Streitfällen machen. Der blutige Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien und die Neubildung mehrerer nationaler Staaten auf seinem Territorium ist der uns historischpolitisch und geographisch naheliegendste Fall. Stefan Troebst weist – im Unterschied zum Mainstream der Geschichtsschreibung – auf die funktionale Rolle von Gewalt im Prozeß der Nationsbildung hin. Sie sei nicht bloß dessen Epiphänomen, sondern intensiviere die Polarisierung im Freund-Feind-Schema und produziere im Kreislauf von Leiden, Leidensgeschichte und nationalen Mythen ihre eigene Legitimation.
Den Zusammenhang von nationalen Ressentiments und der Eskalation von Gewalt beschreibt Walter Manoschek für den Einsatz österreichischer Soldaten und Generäle im Balkanfeldzug 1941 bis 1945. Die überdurchschnittlich starke Präsenz österreichischer Offiziere und Soldaten in Truppenteilen der Deutschen Wehrmacht auf dem Balkan und deren aktive Teilnahme an sogenannten Sühnemaßnahmen gegenüber der jugoslawischen Zivilbevölkerung war keineswegs zufällig. Die nationalsozialistische Führung berücksichtigte bei der Auswahl der kommandierenden Offiziere und Kader bewußt die sogenannte "Habsburger Schule" im Umgang mit den Völkern auf dem Balkan. In Tagesbefehlen zu Massenerschießungen etwa wurde an verbreitete antiserbische Ressentiments aus dem Ersten Weltkrieg und an den nach 1918 ausgeprägten deutsch-österreichischen Revanchismus gegenüber den Südslawen appelliert.
Die internationale Wirtschaftskrise und der durch sie beschleunigte Zusammenbruch der ,realsozialistischen‘ Ökonomien begünstigte allerorts die Konjunktur‘ der Nationalismen. Alte und neue politische Eliten benützen den nationalen Populismus, um sich an der Macht zu halten. Ein Großteil der Intellektuellen liefert die ideologische Legitimation. Auch in Jugoslawien erfolgt die politische Wende zur postkommunistischen Gesellschaft weniger im Paradigma eines ökonomischen und politischen Systemwechsels als unter dem der Nationenbildung. Christian Promitzer beschreibt den Aufstieg nationaler Populismen in den neuen Staaten unter dem Deckmantel der Demokratisierung. Dadurch sei die Reform der jugoslawischen Föderation durch integrative, bundesweite politische Parteien schon in der Phase des Umbruchs unmöglich geworden.
Die klassische Trias von Volk, Land und Geschichte ist in diesem ethnisch durchmischten Raum nicht zur Deckung zu bringen. Die Spirale sich steigernder und verstetigender Gewalt verhindert bislang politische und ökonomische Konfliktlösungen. Als Ultima ratio erscheinen den Beteiligten die Mittel des Bevölkerungstransfers, der ethnischen Säuberung und schließlich des Genozids – die Vernichtung des Fremden.
Gerhard Baumgartner, Reinhard Sieder
Inhalte
Stefan Troebst
Ethnien und Nationalismen in Osteuropa
Christian Promitzer
Demokratie als ethnisch geschlossene Veranstaltung
Walter Manoschek
Opfer, Helden, Kriegsverbrecher?
John Komlos
Vierundzwanzig Lektionen in geschichtswissenschaitlicher Rezension
Joel M. Halpern
Töten mit dem Messer
Karl Kaser
Forschungsprojekt „Balkanfamilie“
Wolfgang Ernst
Ernst Kantorowicz heute