Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 3. Jg., Heft 1, 1992

Offenes Heft
Im Gegensatz zur bisherigen Praxis präsentiert die Redaktion der ÖZG mit der vorliegenden Ausgabe erstmals ein offenes Heft mit Beiträgen zu unterschiedlichen Themen. Seit geraumer Zeit stapeln sich die uns angebotenen Manuskripte in der Redaktion. Wir erachten dies als Erfolg und als Hinweis darauf, daß die ÖZG die kritische Phase der Plazierung eines neuen Kommunikationsorgans im Wissenschaftsbetrieb überwunden haben dürfte. Künftig soll neben den Themenheften jährlich ein offenes Heft erscheinen, in dem wir Aufsätze bringen werden, die nicht innerhalb eines vertretbaren Zeitraums in einem Themenheft erscheinen könnten.
 
Den Aufsatzteil dieser Nummer eröffnet ein Beitrag von Markus Reisenleitner (Wien) über die Probleme der Kulturgeschichtsschreibung im Lichte poststrukturalistischer Texttheorien. Sie definieren die Beziehung von Signifikant und Signifikat, von Zeichen und Bedeutung, als nicht ein für alle Mal fixiert, sondern als eine Relation, die im gesellschaftlichen Prozeß der Herstellung von Bedeutungen einer permanenten Reinterpretation unterworfen ist. Auch Kulturhistorie könne jeweils nur die Sinnpotentiale von kulturellen Zeichensystemen der Vergangenheit sowie deren Gebrauch und Reinterpretation im Rahmen gesellschaftlicher Machtkämpfe analysieren; niemals aber könne sie die endgültige Klärung von Bedeutungszusammenhängen für sich beanspruchen, da ihre Diskurse denselben Regeln unterworfen seien wie die Objekte ihrer Diskurse. Es gebe keinen transzendentalen Ort der Analyse. Kulturgeschichtsschreibung könne nur als Text über einen textlich konstituierten Gegenstand verstanden werden. Was sie leisten könne und worin ihr emanzipatorisches Potential bestehe, sei ihre Fähigkeit, offensichtliche (oder traditionelle) Lesarten aufzubrechen und sich dabei selbst stets der Dekonstruktion zu öffnen; Ironie und Vorläufigkeit sollten wieder ihren Platz im wissenschaftlichen Diskurs finden.
 
Gábor Kresalek (Budapest) beschreibt in seinem Beitrag die Art und Weise, wie im stalinistischen Ungarn Filme produziert und den Ansprüchen der herrschenden Ideologie angepaßt wurden. Die besondere Kontrollierbarkeit des geschriebenen Wortes habe bewirkt, daß dabei dem Filmdrehbuch – also dem geschriebenen Wort – die Schlüsselrolle zufiel. Die über diese Filme transportierte Vorstellung von Gesellschaft habe den Schablonen stalinistischer Wirklichkeitskonstruktion entsprochen. Abweichendes, nonkonformistisches Verhalten sei auf die Rollen von Außenseitern und Staatsfeinden beschränkt worden.
 
Harald Binder (Bern) beschäftigt sich mit einem gigantischen wirtschaftspolitischen Luftschloß "Kakaniens" , der sogenannten Wasserstraßenvorlage des Jahres 1901. Die österreichische Reichshälfte der Donaumonarchie sollte durch ein großzügiges Kanalnetz verbunden werden. Binder nimmt die Tatsache, daß dieses Vorhaben zwar im Reichsrat ausführlich diskutiert, aber nicht realisiert wurde, zum Anlaß, um das Zustandekommen des Entwurfs sowie seine Behandlung und Instrumentalisierung in den parlamentarischen Gremien zu untersuchen. Er zeigt, daß es sich hierbei nicht um einen bewußten Versuch der Regierung handelte, die Infrastruktur für eine erfolgreiche Industrialisierung zu verbessern, wie die bisherige Interpretation lautet, sondern um einen politischen Prozeß, in dem die Mandatare der regionalen, nationalen und wirtschaftlichen Interessensgruppen im Reichstag um Einfluß und Anerkennung kämpften. Politik als Diskurs ohne Realisierung seiner Ideen, sozusagen.
 
Im Interview mit dem Sozialhistoriker Jürgen Kocka (Berlin) kommen zunächst die Entstehung der "historischen Sozialwissenschaft" in den 1970er Jahren und die seither geführten Auseinandersetzungen um politische Geschichte, Alltagsgeschichte, historische Frauenforschung und Kulturgeschichte zur Sprache. Kocka unterstützt die Forderung nach Einführung der Kategorie Geschlecht in die Geschichtswissenschaften und plädiert für eine kulturwissenschaftlich erweiterte Sozialgeschichte, beharrt jedoch auf deren materialistischer Fundierung. Anschließend berichtet er über den laufenden Prozeß und die Probleme der Evaluation und Rekonstitution der Geschichtswissenschaften in der ehemaligen DDR.

Erich Landsteiner

Inhalte

Markus Reisenleitner
Kulturgeschichte auf der Suche

Gábor Kresalek
„Singend wird das Leben schön“

Harald Binder
Die Wasserstraßenvorlage im Jahre 1901

Jürgen Kocka
Deutschlands Historiker/innen nach dem Fall der Mauer

Richard Mitten
Im Gericht die Geschichte

Susan Zimmermann
Die Wälder hinter den Bäumen

Christiane Eifert
Frauenforschung zur Nachkriegszeit

Karl Kaser/Norbert Ortmayr
Die Rückkehr des Politischen

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