Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 14. Jg., Heft 1, 2003

Musik Kulturen
Musik Kulturen
 
Die Transdisziplinarität von Kulturwissenschaft/Cultural Studies bedeutet eine Reform geisteswissenschaftlicher Forschung derart, dass Fragestellungen nicht mehr allein durch eine Disziplin vorgegeben, sondern in der Diskussion zwischen Disziplinen erneuert werden. Mit Mieke BaI meinen wir, dass dies »die verheißungsvollste geisteswissenschaftliche Innovation des letzten Jahrzehnts«(1) ist.
Die kulturwissenschaftliche Analyse von Musik verlangt – ähnlich wie die Analyse von bildender Kunst oder Literatur – nach der Integration musikwissenschaftlicher, literaturwissenschaftlicher, geschichtswissenschaftlicher, anthropologischer und sozialwissenschaftlicher Begriffe und Arbeitsweisen. Musik ist ebenso wenig wie Literatur oder Bildende Kunst auf Fragen der Ästhetik zu reduzieren, sie muss kulturell gerahmt werden. Schon der Titel des vorliegenden Bandes weist auf die vielfältige Verankerung von Musik in der Gesellschaft und auf ihre Funktion als kulturelles Erzeugnis. Musik-Kulturen werden hier in mehreren Aufsätzen als konstruierbare Felder von mehr oder minder spezialisierten Akteuren (Bourdieu) – von Komponisten, Musikern, Sängern, Zuhörern -, von umkämpften Bedeutungen und von aufeinander verweisenden Praktiken des Komponierens, Schreibens, Dirigierens, Spielens, Singens, Zuhörens etc. gedacht und dementsprechend historisch-empirisch sowie fallanalytisch untersucht.
 
Musikgeschichte, die als Sub-Disziplin der Musikwissenschaften das Gros der Beiträge des vorliegenden Bandes stellt, bestimmt ihr Interesse unter dem Eindruck der aktuellen kulturwissenschaftlichen Debatte neu: Sie lenkt es einerseits auf die Rezeptionsgeschichte, also auf die Beschreibung der vielfältigen Wirkungen von Musik auf Individuen und Gruppen. Andererseits untersucht Musikgeschichte die gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen der Musikproduktion in ihrer Veränderung, nicht zuletzt die technischen Medien, die den Umgang mit dem musikalischen Erbe mit bestimmen, aber auch neue Publikumsschichten erschließen und Komponisten herausfordern, dieses neue Publikum auch zu >erreichen<. Diese kulturwissenschaftliche Neuorientierung führte im übrigen bereits zu einer Spezifizierung der Forschungsarbeit am Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik (ehemals: Institut für Musikgeschichte) an der Universität (ehemals: Hochschule) für Musik und darstellende Kunst in Wien. Als eine Konsequenz werden seit dem Wintersemester 2002/3 ausgewählte Lehrveranstaltungen aus Musikgeschichte auch im Rahmen des transdisziplinären Studienschwerpunkts »Kulturwissenschaft und Cultural Studies« an der Geistes-und Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien angeboten.(2)
Den folgenden Aufsätzen ist die übergeordnete Fragestellung gemeinsam, ob es das Zusammenwirken geschichtswissenschaftlicher, musikwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Theorien, Begriffe und Methoden erlaubt, Musik als kulturelle Praxis zu beschreiben und zu analysieren. Ausgehend von Überlegungen zur historischen Bestimmtheit jedweder Musik zeigt Manfred Permoser an drei Fallanalysen aus so verschiedenen Musik-Feldern wie der traditionellen Kunstmusik (Oper, Klavierkonzert u. a.), der Unterhaltungsmusik des 18. und 19. jahrhunderts (Walzer) und der expressionistischen Zweiten Wiener Schule, wie die möglichen Bedeutungen von Musik an die Deutungs- und Erlebnishorizonte der Gesellschaft bzw. der jeweils beteiligten sozialen Milieus gebunden sind. Er zeigt aber auch, dass Komponisten ihrerseits von geistigen, ästhetischen, philosophischen und politischen Strömungen, von den gesellschaftlichen Verhältnissen und ökonomischen Zwängen, in denen sie leben und arbeiten, gar nicht abstrahieren können. Sie gehen – wie unter anderem die Briefe Mozarts an seinen Vater eindrucksvoll zeigen – in ihre Kunstproduktion ein.
Christian Glanz führt uns in eine besondere politisch-ideologische Lage von Komponisten und Musikern in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein. Faschistisch und kommunistisch dominierte Staaten, autoritäre Regime und Diktaturen in Europa und Südamerika, aber auch die USA in der Periode des New Deal versuchten durchaus erfolgreich, die Handlungsmöglichkeiten und Erfolgsstrategien von Komponisten und Musikern zu >dirigieren<. Bei allen Unterschieden in der Ideologie und in der Anwendung politischer Gewalt legten sie ihnen direkt oder indirekt nahe, Kollektivismus in der Musik >zum Klingen< zu bringen: in der faschistischen Lobpreisung des Duce (bei Respighi), in einer >sozialistischen< Symphonie (bei Schostakowitsch), in einem >nationalen< Musikepos (bei Kodaly), in staatlichen Organisationen der Musikerziehung (wie bei Bartók in Ungarn und bei Villa-Lobos in Brasilien), oder in >populärer< Kunstmusik (wie bei Aaron Copland).
Anita Mayer-Hirzberger gibt in ihrer Studie zur politischen Konnotation von Kirchenliedern in protestantischen und katholischen Kirchen ein überzeugendes Beispiel für die identitätsstiftende Kraft von Musik: Sie konstituiert oder stärkt imagined communities, Gemeinschaften, die sich über Gesänge Identität geben, aber auch ihre Feinde denunzieren. Die protestantischen und katholischen Messfeiern mit ihrem Liedgesang erweisen sich im 16. und 17. jahrhundert als ein eminent politischer Ort. Und eminent politisch ist auch der Rückgriff auf das historische Bild der seinerzeit vertriebenen Protestanten durch protestantische Gesangs-Funktionäre des Nationalsozialismus, die sich im katholischen »Ständestaat« heimatlos fühlen und die >Heimholung< Österreichs im März 1938 enthusiastisch besingen.
 
Als Vorstand und einziger Ordinarius des ehemaligen Instituts für Musikgeschichte ergänzt Friedrich C. Heller diese Fallstudien durch eine sehr persönliche Rückschau. Sein Text beendet die Reihe jener Beiträge, die den musikhistorischen Blick in die transdisziplinäre Perspektive der Kulturwissenschaft einbringen.
Die folgenden drei Artikel thematisieren den Gebrauch von Literatur und Bildender Kunst zu nationalen und nationalistischen Zwecken sowie den Dokumentarfilm als Kunstform >zwischen< Faktum und Fiktion.
Werner Telesko beschreibt die Stiftung nationaler Identität/en im 19. Jahrhundert durch Werke der bildenden Kunst in Mitteleuropa. Er hebt den prekären Prozesscharakter jeder nationalen Identitätsbildung hervor wie auch den Umstand, dass politische Mythen nahezu immer personalisieren, was den Bildhauern des 19. Jahrhunderts unzählige Aufträge für Büsten und Standbilder und den Malern Aufträge für Herrscherbilder verschuf. Politische Mythen, so zeigt er, behaupten so gut wie immer Ursprung und Kontinuität, die sie allerdings selber herstellen (konstruieren), indem sie darüber erzählen.
Daniel Winkler macht in seinem Beitrag zur Theoriegeschichte des Dokumentarfilms deutlich, dass dessen Anspruch, Vergangenes zu dokumentieren, nicht hinreicht, um ihn vollends und trennscharf vom Spielfilm abzugrenzen. Am Fall eines 1997 entstandenen Dokumentarfilms über eine Pariser Banlieue-Siedlung zeigt er die fiktionalen Hemente des Dokumentarfilms, aber auch den nicht immer einlösbaren Anspruch von Dokumentarfilmern, ihre eigene Konstruktionsarbeit transparent zu machen, indem sie sich als Konstrukteure mit ins Bild setzen.
Wilhelm Baum erzählt eine Geschichte von Konflikten um Literatur und darstellende Kunst im Bundesland Kärnten. Auch hier wird offensichtlich: Kunst wirkt, abhängig von den jeweiligen Produktions- und Rezeptionsbedingungen, vielfältig, ja diametral – als Behübschung, als Unterhaltung, als Erbauung, als Repräsentanz der Herrscher, als Feier der Nation, als Provokation, als Skandalon. So wird das Kunstwerk häufig von Teilen der Bevölkerung bestritten; insbesondere wird die Legitimität, es öffentlich zur Schau zu stellen bzw. es öffentlich zu Gehör zu bringen oder es von der öffentlichen Hand zu unterstützen in Zweifel gezogen. Was den einen die würdige Feier der Nation, ist den anderen ein Ärgernis. Was den einen als notwendige Provokation erscheint, deuten andere als >Nestbeschmutzung< oder >Entartung<. Dabei geht es immer auch um das Eigene, das sich aus der Negation des Fremden artikuliert. Kurz: Auch das Feld der Kunst ist eine Arena der Bedeutungskämpfe. Die Kunstprodukte der Musik, der Literatur oder der darstellenden Künste bilden unterschiedlich provokante Einsätze in diesem Kampf. Ihn sorgfältig zu analysieren, ohne seine politischen, sozialen und ökonomischen Implikationen zu übersehen, steht auf der Agenda einer transdisziplinären Kulturwissenschaft.
Cornelia Szabó-Knotik / Reinhard Sieder
 
Anmerkungen

(1) Mieke Bai, Kulturanalyse. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef, Frankfurt am Main 2002, 26.
(2) Das jeweils aktuelle Lehrangebot des transdisziplinären Studienschwerpunkts Kulturwissenschaft und Cultural Studies findet sich im Web: www.univie.ac.at/culturalstudies.

Inhalte

Manfred Permoser
Komponiertes Leben. Musikalische Kommunikation im soziokulturellen Kontext

Christian Glanz
Musikalischer Populismus und politischer Kollektivismus in den 1920er und 1930er Jahren

Anita Mayer-Hirzberger
Das Kirchenlied als politisches Argument

Werner Telesko
Österreichs Identitäten in der Bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts

Friedrich C. Heller
Wandel der Lehre. Persönlicher Rückblick

Wilhelm Baum
Kunstzerstörungen und Bücherverbrennungen im wilden Kärnten

Daniel Winkler
Die Selbst(-referentielle) Inszenierung eines cinéaste militant. Eine Pariser Banlieue-Siedlung im Kontext der Theoriegeschichte des Dokumentarfilms

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