Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 15. Jg., Heft 1, 2004

Bodies / Politics
Bodies / Politics
Der Körper ist der Inbegriff des individuellen Selbst und gleichzeitig Schnittstelle zu dessen Umgebung, zur ‚Außenwelt‘, zur Gesellschaft. Dass der Körper nicht ahistorische, immer gleichbleibende Natur ist, war Ausgangsthese und vielfach belegtes Resultat der Arbeiten, die das in den letzten Jahren etablierte und sehr rege Forschungsfeld ‚Körpergeschichte‘ mitkonstituierten. (1) Michel Foucault, der bereits in den 1970er Jahren eine erste Landkarte dieses Bereiches erstellte, auf die sich unzählige seither erschienene Arbeiten beziehen, hat festgestellt, dass sich die bürgerliche Moderne in Machttechnologien, die den Körper zum Ziel hatten, manifestierte sowie dass die Reinheit, Erhaltung und Leistungsfähigkeit des (bürgerlichen) Körpers Legitimation und Repräsentation des Anspruchs auf politische Macht war. (2) Diese Perspektive erlaubt, die Verquickung zwischen der Formung, der Disziplinierung, der Regulierung individueller Körper und der Etablierung und Normierung von Gesellschaften in den Blick zu nehmen.
 
In unmittelbarem Zusammenhang mit normierenden und disziplinierenden Zugriffen stehen Klassifizierungen des menschlichen Körpers nach Kategorien wie ‚Rasse‘ und Geschlecht, die die Wahrnehmung individueller Körper präformieren. Feministische Auseinandersetzungen mit den wirkmächtigen Konzepten körperlicher Geschlechterdifferenz haben die soziale Konstruiertheit eines biologisch definierten geschlechtlichen Körpers deutlich gemacht. (3) Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass die gesellschaftlichen Formungen individueller Körper Geschlecht zugleich voraussetzen und herstellen. So wird auch in den Beiträgen der vorliegenden Nummer der ÖZG deutlich, dass Körperbilder immer einen geschlechtlichen Körper imaginieren.
 
Ebenfalls auf Michel Foucault geht der Hinweis zurück, dass vor allem in der menschlichen Generativität, in Fortpflanzung beziehungsweise Fortpflanzungsfähigkeit ein zentraler Ansatzpunkt disziplinierender Diskurse und Praktiken liegt, weil seit der Entwicklung der Theorie von der Vererbung eben darin die entscheidende Verbindung zwischen individuellem Verhalten und Gesellschaft gesehen wird. JedeR Einzelne hatte damit Verantwortung für das Schicksal der Gattung beziehungsweise des Kollektivs, gedacht als Nation, als Staat oder als Familie. Damit legitimierte das wie immer konzipierte Kollektiv auch die Kontrolle über die Sexualität, über die Körper der Einzelnen. (4) Einige der in diesem Band der ÖZG versammelten Texte können auch als Kommentar zu dieser These gelesen werden.
 
Barbara Bairds Aufsatz führt in das Australien der 1950er Jahre. Die Autorin analysiert eine 1956 am Melbourne Royal Women’s Hospital durchgeführte sozialwissenschaftliche Studie über illegal durchgeführte Schwangerschaftsabbrüche bei weißen Frauen und deutet den sich darin abzeichnenden Wandel von der Kriminalisierung zur Medikalisierung der Abtreibung als Ausdruck eines Bevölkerungskonzeptes, das für einen neuen "Australian way of life" stand. Ebenfalls um Abtreibung kreist der Text von Rada Drezgic, der sich mit den Debatten um die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs im Serbien der 1990er Jahre beschäftigt. Drezgic zeigt, wie Abtreibung zu einer negativen Metapher für ein sozialistisches Geschlechtermodell wurde, anhand der konzeptive Vorstellungen von Geschlecht und Nation beziehungsweise Individuum und Gesellschaft abgehandelt wurden. Der Aufsatz von Ritva Nätkin fragt nach den Wurzeln des Wohlfahrtsstaates im bevölkerungsarmen Finnland, in dem Frauen als Reproduzentinnen ebenso wie als Arbeitskräfte in der Produktion gebraucht wurden. Anhand von vier Sozialpolitikerinnen rekonstruiert Nätkin verschiedene Diskursstränge einer maternalistisch-nationalistischen Bevölkerungspolitik in den Jahren 1941 bis 1971. Einen anderen Aspekt des Generativen tangiert schließlich Jennifer Nelsons Auseinandersetzung mit US-amerikanischen Sciencefiction-Texten der 1970er Jahre, die zwar in eine andere Textgattung und Zeitdimension weisen, aber von Nelson dazu genutzt werden, gesellschaftliche Konzepte des US-Feminismus zu beschreiben.
 
Von einer ganz anderen Perspektive kommt das Verhältnis von ‚Körper‘ und ‚Politik‘ in den Blick, wenn die Körpermetaphorik politischer Diskurse thematisiert wird. Dies betrifft sowohl die Bezeichnungsformen spezifischer kommunaler Organisationsformen – etwa im Begriff der ‚Körperschaft‘ – als auch Vorstellungen eines Gemeinwesens, eines Staates oder eines ‚Volkes‘ als ‚Körper‘, die – Ernst Kantorowicz (5) folgend – auf die mittelalterliche Theorie von den zwei Körpern des Königs zurückgeführt werden können. Zwischen Konzepten des individuellen Körpers und dem metaphorischen Körper eines Gemeinwesens bestehen komplexe Verweisstrukturen, die es in je spezifischen historischen Kontexten zu analysieren gilt. So zeigt etwa Heidrun Zettelbauer, wie in deutschnationalen Diskursen um 1900 der weibliche Körper als ein die Grenze der Nation definierender ‚Volks-Körper‘ wahrgenommen und funktionalisiert wurde. Angela Kochs Untersuchung zu Wort- und Ideengeschichte von Vergewaltigung macht deutlich, dass die damit angesprochenen Gewaltverhältnisse nicht ohne die explizite Thematisierung von Konzepten der nationalen Gemeinschaft analysiert werden können. Ihre These von der Ineinssetzung von Kollektiv und weiblichem Körper verdeutlicht Koch u. a. anhand Friedrich Schillers Drama Die Verschwörung des Fiesco zu Genua aus dem Jahre 1783. Kirsty Robertson zeigt mit einer Untersuchung von Anzeigen für Hygieneartikel in den populären Illustrated London News der Jahre 1915 und 1916, wie spezifische Hygienediskurse im Ersten Weltkrieg zugleich auf die individuellen Körper britischer Soldaten wie auch auf die Wiederherstellung Großbritanniens als spezifischen Gesellschaftskörper zielten.
 
Die Herausgeberinnen verbinden mit diesem Schwerpunktheft die Hoffnung, die Aufmerksamkeit der Leser und Leserinnen auch auf geographische Räume zu lenken, die in der österreichischen historiographischen Debatte häufig ausgeblendet oder zumindest marginalisiert werden. Vor allem aber verweisen die hier versammelten Beiträge aus unserer Sicht darauf, dass erst vor dem Hintergrund historisch spezifischer Diskurse über die individuellen Körper die politische Körpermetaphorik differenziert analysier- und interpretierbar wird, dass aber umgekehrt auch die disziplinierenden und normierenden Diskurse um den Körper nicht ohne ihre Bezüge zu Konzepten und Bildern jener politischen ‚Körper‘, in denen sie situiert sind, untersucht werden können.
 
Johanna Gehmacher / Wien
Gabriella Hauch / Linz
Maria Mesner / Wien
 
 
Anmerkungen

(1) Vgl. dazu beispielsweise die Literaturangaben in Maren Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen 2000.
(2) Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1992 (11977) (= Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, erster Band), 150 f.
(3) Vgl. Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt am Main 1997.
(4) Vgl. ebd., 21.
(5) Vgl. Ernst Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology. Princeton, NJ1957.

Inhalte

Heidrun Zettelbauer
Imaginierte Körper. Geschlecht und Nation im deutschnational-völkischen Verein Südmark 1894-1918

Angela Koch
Die Verletzung der Gemeinschaft. Zur Relation der Wort- und Ideengeschichte von »Vergewaltigung«

Barbara Baird
Disciplining the Aborting Woman: Social Work and Changing Discourses of Race, Class and Reproduction in 1950s Australia

Jennifer Nelson
Feminist Utopia, Reproductive Technology, and Relationships of Difference in Contemporary American Feminism: A Reading of Octavia Butler’s Feminist Utopias

Kirsty Robertson
»Sister Susie’s Sending Soap to Soldiers«:
Hygiene, Gender and Class Lines in First World War Britain

Ritva Nätkin
Women’s Agency in Finnish Population Policy

Rada Drezgic
From Social to National Issue: Abortion Debates in Serbia in the 1990s

Elke Krasny
Museum und Gender: ein schwieriges Verhältnis

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